Reisetagebücher

Bernd Runde

Im Jahr des Drachen mit der Transsibirischen Eisenbahn über Sibirien und die Mongolei zu einer Rundreise durch das östliche China (1988)

Mit der Transsibirischen Eisenbahn durch Ostsibirien und die Mongolei nach Peking (Beijing) und von dort kreuz und quer mit Bahn, Flugzeug und Schiff zu den touristischen Höhepunkten im Osten der Volksrepublik China inklusive einer Schiffsfahrt auf dem Jangtsekiang.


China China © 1988-2016 Bernd Runde

Stationen einer Reise nach China


Mit Flugzeug und TransSib gen Osten (Moskau - Irkutsk - Baikalsee)

Um 06:00 Uhr in der Früh klingelt der Wecker. Nach leckerem Restefrühstück starten wir in aller Gemütsruhe um 07:45 Uhr nach Frankfurt. Der Wagen wird im Innenhof der Firmen-Filiale sicher abgestellt, nachdem wir uns ein Taxi aus der Innenstadt geholt haben. Alles läuft reibungslos. Eine Stunde vor der vereinbarten Zeit sind wir um 10:30 Uhr am Flughafen. So können wir in Ruhe einchecken und ‘mal wieder den Duft der großen weiten Welt im Betrieb des Flughafens schnuppern. Am vereinbarten Treffpunkt sammeln sich die ersten Reisenden. Wir beobachten aus einiger Entfernung, mit wem wir denn wohl die nächsten Wochen zusammen sein werden. Unser Reiseleiter ist Herr Ripper, der uns die noch fehlenden Reiseunterlagen aushändigt. Zögernd zunächst begrüßt man den einen oder anderen aus der herumstehenden Gruppe. Mit 45 Minuten Verspätung startet LH 1372 Richtung Moskau.

Über dichten Wolken düst der Airbus gen Osten. Es ist nichts vom Land unter uns zu sehen. Nach der Ankunft auf dem neuen Moskauer Flughafen Scheremetschewo II und einer zügigen Zoll- und Gepäckabfertigung gehen wir noch im Flughafen zum Abendessen. Der Weiterflug innerhalb der UdSSR geht als Inlandsflug vom am anderen Stadtende liegenden Flughafen Wnukowo ab. Die Fahrt dorthin, die teilweise über den äußeren Autobahnring durch Moskauer Vorstadtsiedlungen mit ihren schmucklosen Betonburgen führt, nutzen wir zu einem kleinen Abstecher in die Innenstadt. Am Roten Platz sind wir kaum aus dem Bus, da fängt es fürchterlich an zu gießen. Ein kurzer Dauerlauf zum Leninmausoleum, ein schneller Blick auf die angestrahlte Basilius-Kathedrale, und wir sind völlig durchgeweicht. Einen weiteren Stopp legen wir in den Leninbergen ein. Von hier oben, direkt am Steilufer der Moskwa - vom Park der Lomonossow-Universität -, genießen wir einen herrlichen Blick über die nächtliche Stadt.

Auf dem Inlands-Flughafen Wnukowo spüren wir das erste Mal den Unterschied zwischen unseren gewohnten Alltagsdingen und der sowjetischen Wirklichkeit. Es gibt keine Möglichkeit, noch irgendeine Erfrischung zu bekommen, geschweige denn, Geld umzutauschen; die sowjetischen Werktätigen haben Feierabend!! Erst weit nach Mitternacht startet unsere Maschine in Richtung Bratsk. Nach 3 Stunden Flug verbringen wir während einer Zwischenlandung in Omsk eine Stunde in der Flughafen-Lounge. Es ist empfindlich kühl (+2°C), und wir empfinden den völlig überheizten Wartesaal für Ausländer - es gibt sogar Bier und Coca-Cola - als recht angenehm. Das ist aber nur für die ersten 10 Minuten, dann stehen die Ersten schon wieder vor der Tür und genießen die Kühle der sibirischen Nacht. Gegen 04:30 Uhr morgens, die Sonne steigt gerade über den Horizont, setzen wir unseren Flug fort. Endlos erstreckt sich unter uns die schneebedeckte Berg- und Flusslandschaft der sibirischen Taiga.

Am zugefrorenen Baikalsee in Bratsk-Batum Am zugefrorenen Baikalsee in Bratsk-Batum (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Nach Ankunft im Hotel ‘Taiga’ im 5.000 km östlich von Moskau gelegenen Bratsk und einem flüchtigen Blick aus dem Zimmerfenster auf trübselige Betonhäuser wird uns ein ausgezeichnetes sibirisches Mittagessen serviert. Das Nachmittagsprogramm führt uns mit dem Bus durch die Stadt und dann zur Besichtigung eines der vielen Wasser-Kraftwerke am Lauf der im Bereich der Staustufen mit einer dicken Eisschicht bedeckten Angara. Der Wasserreichtum und das starke Gefälle auf ihrem Weg in den Jenisej machen diesen Fluss zum Zentrum sibirischer Stromerzeugung. Anschließend besuchen wir Batum, den Gründungsortsteil von Bratsk. Die Luft ist kühl und klar. Die Frühlingssonne wärmt schon recht angenehm und hat auch den Schnee bis auf wenige schmutzige Reste aus der Landschaft entfernt.

Sibirisches Holzhaus in Bratsk Sibirisches Holzhaus in Bratsk (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Viele einzeln stehende Holzhäuser, versteckt hinter Bretterzäunen, mit blau gestrichenen Fenstern und Fensterläden und zum Teil aufwendigen Schnitzereien, bestimmen das Bild des kleinen Ortes. Die weißen Stämme der noch nicht belaubten Birken bilden einen besonderen Kontrast und verstärken den Eindruck dessen, was wir als typisch sibirisch bezeichnen würden. Ganz im Gegensatz dazu die aus Fertigteilen zusammengesetzten Wohnblocks in Bratsk. Grau und trostlos stehen sie an zum Teil überbreiten Straßen.

Trostlose Wohnblocks in Bratsk Trostlose Wohnblocks in Bratsk (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Einen kurzen Abendbummel nutzen wir, um wenigstens einen kleinen Eindruck vom Leben rund um die monotonen und recht unansehnlichen Wohnblocks mit ihren von Gerümpel überladenen Balkons zu gewinnen.

Am nächsten Tag merken wir an der Organisation auf dem Flughafen, welche Probleme ein eingefahrenes Schema verursacht, wenn neue Situationen auftauchen. Die Abfertigung unserer kleinen Gruppe zieht sich über 2 Stunden hin. Wir müssen mit kleinen zweimotorigen Maschinen nach Irkutsk fliegen, da der Flughafen von Irkutsk umgebaut wird und für große Verkehrsmaschinen gesperrt ist. Auf harten, mit Leinentuch bespannten Rohrgestellen, zusammengefercht ohne Bewegungsfreiheit für Ellbogen und Beine, finden wir uns in einer kleinen zweimotorigen Propellermaschine wieder. Na ja, in Sibirien sind ja schon viele verschollen. Wir landen dann aber doch irgendwo zwischen Militärmaschinen und aufgerissenen Landepisten in Irkutsk. Ein Bus steht vor dem Flughafen und befördert uns in das ausgezeichnete Hotel ‘Intourist’, direkt am Ufer der Angara.

Nach einem exzellenten Mittagessen schließt sich eine Stadtrundfahrt an. Mit Bedauern erfahren wir immer wieder, dass es wohl keine Kirche gibt, die für Besichtigungen freigegeben ist, obwohl die offizielle Version lautet: “Die Gläubigen fühlen sich durch Fremde gestört und wünschen nicht als Touristenattraktion herausgestellt zu werden.” Die Erlöserkirche ist gesperrt, eine alte Basilika daneben ist geschlossen. So begnügen wir uns mit der Wachablösung der Komsomolzen am Ehrenmal zum Gedenken an den ‘Großen Vaterländischen Krieg’. Die älteste Straße der Stadt wird von 80…90 Jahre alten Holzhäusern gesäumt, die in recht renovierungsbedürftigem Zustand sind. Unsere Stadtführerin bemerkt dazu, dass alles Bemühen der Stadtverwaltung, die Bewohner in andere Quartiere umzusetzen, bisher erfolglos geblieben sind. Da wir die neuen Quartiere kennen, ist uns das zumindest teilweise verständlich. Dann erleben wir doch noch eine Überraschung. Die Kreuz-Erhöhungs-Kirche ist geöffnet und darf besichtigt werden.

Komsomolzen bei der Wachablösung Komsomolzen bei der Wachablösung (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Bei einem ungeführten Spaziergang schlendern wir dann noch durch die ‘moderne’ Innenstadt, wo rund um die Markthalle reger Betrieb herrscht. Junge Leute versuchen, oft auf englisch radebrechend, herauszufinden, wo wir herkommen. Den Abend verbringen wir bei Wodka mit Orange in der Kalinka-Bar des Hotels.

Nur 75 km von Irkutsk entfernt liegt der Baikalsee, der Welt größtes Trinkwasser-Reservoir. Wir fahren mit dem Bus in das kleine Dörfchen Listbianca (=Lärchenbaumsiedlung). Bei strahlend blauem Himmel beträgt die Temperatur 0°C. Unterwegs sehen wir Stellen in der Taiga, an denen die winterlich kahlen Birken mit weißen und bunten Stoffstreifen geschmückt sind. -Wallfahrtsplätze-, wie wir sie auch in Georgien angetroffen haben, dort aber in der Nähe eines verlassenen Klosters. Wir bummeln über die gefrorenen Dorfstraßen und versuchen, uns ein Leben in dieser Einsamkeit vorzustellen.

Listbianca am Baikalsee Listbianca am Baikalsee (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Es sind nur wenige alte Leute zu sehen. Zumindest um diese Jahreszeit können auch die grün und blau gestrichenen Fenster, Fensterläden und Hausverzierungen, keine anheimelnde Atmosphäre erzeugen. Es wirkt alles aufgeräumt und sauber. Bei einem Blick hinter die Häuser gewinnt man einen Eindruck vom Alltag in einem sibirischen *Fischerdorf*. Hier wird alles gesammelt, was irgendwie verspricht, eines Tages noch von Nutzen zu sein. Hier lagert auch das Brennmaterial für die Heizung während der kalten Wintermonate: Holz.

Verzierte Fenster Verzierte Fenster (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Auf einer Anhöhe direkt am Ufer des Sees, dort wo die Angara, der einzige Abfluss des Baikalsees, diesen verlässt, steht ein Intourist-Hotel. Das Mittagessen ist im Restaurant ‘Baikal’ vorbereitet. Von hier genießt man eine herrliche Aussicht auf das endlose Weiß der tiefgefrorenen Oberfläche des Sees, die abrupt an einer eisfreien Zone endet. Das aus der Tiefe des Sees in die Angara fließende ‘warme’ Wasser hält den Bereich des Angara-Austritts eisfrei. Durch ihr starkes Gefälle (40 m allein auf den 70 km bis Irkutsk) entwickelt sich die Angara bald zum reißenden Strom, gebändigt nur durch 4 Staustufen zur Stromgewinnung.

Halsbrecherisch die Rückfahrt. Eine mit Schlaglöchern übersäte staubige Piste führt mitten durch die Wildnis. Der Busfahrer scheint es darüber hinaus auch eilig zu haben, seinen wohlverdienten Feierabend anzutreten. Unbeschadet erreichen wir aber wieder unser Domizil in Irkutsk.

Wir sitzen in der Nachmittagssonne am Ufer der Angara in unmittelbarer Nähe unseres Hotels, immer wieder von Jugendlichen nach Kaugummi, Feuerzeugen und Geldtausch angesprochen. Kann man sich nach 53 Stunden schon ein Bild von Ost-Sibirien machen? Wohl kaum. Aber es waren doch eine Menge Eindrücke, die zumindest zum besseren Verstehen beigetragen haben. Einsame Birken- und Kiefernwälder, durchzogen von staubigen, mit Schlaglöchern übersäten ‘Straßen’. Kalte Nächte und warme Tage bei einer kontinental trockenen Luft.

Während Bratsk eine um mehrere Industriekombinate (Holz, Aluminium, Strom) künstlich angelegte Besiedlung hat, ist in Irkutsk, der ostsibirischen Pelzmetropole, eine echte städtische Atmosphäre zu spüren. Belebte Straßen, Fußgänger auf den Uferpromenaden, alte und neue Häuser in kontrastierendem Gegensatz im Stadtbild, das alles schafft ein angenehmes Klima, zumal wir auch wissen, dass die 900.000-Einwohner-Stadt nichts speziell für Touristen präpariert hat. Während öffentliche Anlagen und Straßen ausgesprochen sauber sind, erzeugt ein Blick hinter die Fassaden doch einiges Erstaunen, denn dort wird alles gelagert und gesammelt, was irgendwann und irgendwo noch von Nutzen sein könnte. In den Dörfern eine Mischung aus alten und neuen, bzw. gepflegten sibirischen Holzhäusern mit verzierten und bunt gestrichenen Fenstern und Fensterläden.

Entgegen ursprünglicher Planung haben wir am Morgen der Abfahrt des Zuges nach Beijing reichlich Zeit. Das Frühstück gibt es nicht im Zug, sondern noch im Hotel. Natürlich liegt alles am sozialistischen System, aber was sind schon 1,5 Stunden Verspätung nach 5.000 km von Moskau bis hierher? Auf dem Bahnhofsvorplatz, im Schatten der monumentalen Front des Bahnhofsgebäudes mit der Kyrillischen Inschrift ‘Irkutsk’, nehmen wir das Alltagstreiben einer sowjetischen Großstadt in uns auf. Elegant gekleidete Frauen mit modernsten Kinderwagen, bettelnde, manchmal auch angetrunkene Abenteurertypen, Militärs und unauffällig gekleidete Bauern und Bäuerinnen, alles bewegt sich bunt gemischt und ungezwungen nebeneinander. Als dann endlich der Zug einrollt, sind wir noch lange nicht an der Reihe. Zuerst wird der Normalbetrieb abgewickelt, dann dürfen wir unseren reservierten Wagen besteigen. Etwas Angst vor zu viel direktem Kontakt hat man wohl doch noch.

Der Bahnhof von Misowaja Der Bahnhof von Misowaja (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Bis zur Grenze sind es über 700 km, und es bleibt Zeit, die vorüberziehende Landschaft zu genießen. Die völlig verdreckten Scheiben der Waggons verhindern allerdings das Photographieren, und so bleibt uns nur der optische Eindruck. Die Bahntrasse führt südlich um den Baikalsee, um schon bald am östlichen Seeufer steil anzusteigen. Draußen ziehen endlose Birken- und Kiefernwälder vorbei und geben ab und zu einen Blick auf die vereisten Ufer des Sees frei. Von fern blinken die schneebedeckten Gipfel hoher Berge. Kleine Ansiedlungen und Dörfer direkt an der Bahnlinie zeigen, welche Lebensader die Bahn in dieser Wildnis ist. Oft nur wenige Minuten hält der Zug auf kleinen Bahnstationen. In Misowaja biegt die Bahnlinie gen Osten ab und folgt der Selenga, einem Baikalzufluss. Die ‘Spuren’ der näher rückenden Millionen-Metropole Ulan Ude, der Hauptstadt der Jarkutischen SSR, sind zuerst auf dem Fluss sichtbar, der sich in eine strömende Kloake verwandelt, je näher wir der Stadt kommen. Die Eisdecke ist aufgebrochen, und dicke Eisschollen werden gegen die weichen Uferböschungen gedrückt. In Ulan Ude mischen wir uns auf dem Bahnhof unter die vielen Reisenden, die sich die Beine auf dem Bahnsteig vertreten. Asiatische Gesichtszüge aller Schattierungen umgeben uns. Hier zweigt die Trasse der in ihrem südlichen Teil erst 1956 fertiggestellten Transmongolischen Eisenbahn nach Süden ab und stellt die Verbindung her zwischen der UdSSR und der VR China.

Aufenthalt in Ulan Ude Aufenthalt in Ulan Ude (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Nach Ulan Ude verbreitert sich das Flusstal der Selenga zu einem breiten Hochtal mit steppenartiger Vegetation und bearbeiteten Feldern. Eingestreut in diese Abgeschiedenheit einige kleine dörfliche Anwesen. Gesäumt wird das Tal von dunklen, bewaldeten Hügeln. Das Klima scheint wärmer zu sein, denn der Fluss ist an Sandbänken und seichten Stellen schon eisfrei. Die letzten 50 km vor der Grenze zur VR Mongolei wandelt sich das ganze Tal in ein seichtes Sumpfgebiet, durch das sich der Fluss in weiten Mäandern windet.

Wir fühlen uns recht wohl im Zug. Ein ganzes 4-Personenabteil gehört uns zu zweit allein. Platz zum Liegen, Sitzen und Lümmeln. Selbst, wenn auf einer Seite das obere Bett heruntergeklappt ist, bleibt genügend Bewegungsfreiheit. Jederzeit können wir heißes Wasser für Tee und Kaffee aus dem Samowar in der kleinen Kabine des Zugbegleiters holen. Das Essen schmeckt ausgezeichnet und ist vor allem nicht auf Touristen abgestellt. Der Speisewagen ist zu einer festen Zeit für uns reserviert. Zum Mittag gibt’s Bortschsuppe, Gulasch mit Pürrée und geröstetem Sauerkraut und Birnenjuice und abends zu frisch gebackenem Brot Sardinen, Spiegelei und Wurst. Etwas typisch Transsib? Ja, das gibt es auch. Die Abteilfenster lassen sich nicht öffnen. Wir haben es trotzdem versucht, mit technischem Geschick und einem nicht vorhersehbaren Ergebnis: Beim Öffnen vielen uns viele Filzstreifen entgegen, die die vielen Ritzen verschlossen und mit dem Filz pfundweise Ruß, der sich noch in seligen Dampflok-Zeiten angesammelt hatte.

Während der nächtlichen Grenzabfertigung, sowohl in Nauschki auf sowjetischer Seite, als auch in Suche Bator auf mongolischer Seite, können wir uns zwanglos auf dem Bahnhofsgelände bewegen, es läuft alles freundlich und zuvorkommend ab. An Schlaf ist allerdings während des Grenzaufenthaltes nicht zu denken, dafür ist zu viel Betrieb im und um den Zug.

Im Reiche Dschingis-Khans, die Volksrepublik Mongolei.

Mit nunmehr 2 Stunden Verspätung setzt sich der Zug wieder in Bewegung. Der morgendliche Blick aus dem Fenster zeigt eine völlig verwandelte Landschaft. Wir fahren durch eine Steppe ohne Strauch und Baum. Der gelbliche Schimmer des ausgedörrten Grases zieht sich bis über die Höhen der das Hochland einschließenden Berge hin. Als die Sonne über den Horizont steigt, rollen wir in Dsun Chara, einer kleinen Provinzstadt, ein. Hin und wieder ziehen durch die Einsamkeit der Steppe mit ihren spärlich bewaldeten Berghängen größere Pferde- und Rinderherden. Die sie begleitenden Hirten sehen aus wie versprengte Reiter aus Dschingis Khans Horden. Abseits der Bahn sehen wir gelegentlich Ansiedlungen, die an einer Häufung von Jurten zu erkennen sind.

Jurtenlager in der Steppe Jurtenlager in der Steppe (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Ulan-Bator (früher Urga), die Hauptstadt der Volksrepublik Mongolei, liegt 1.300 m über dem Meer. Sehr trockene Wärme empfängt uns, als wir durch schmutzige Vororte mit altertümlich anmutenden Industriebetrieben und Lastwagenhöfen die Stadt erreichen. Die Kernstadt wirkt jedoch sehr sauber, und die Straßen sind überfüllt mit Taxis, Bussen, Lastwagen und Privatwagen. Unser Hotel liegt in der Innenstadt in unmittelbarer Nähe des Schauspielhauses, der Akademie der Wissenschaften und des Klosters Lowsangchädub.

Staatstheater Staatstheater (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Riesige Reklametafeln der Aeroflot werben für Flüge nach Nowosibirsk und Moskau. Auffallend große Menschenansammlungen mit vielen Schulkindern in Uniform an den Bushaltestellen in der Nähe unseres Hotels erzeugen den Eindruck einer regen Geschäftigkeit. Später stellt sich jedoch heraus, dass ganz in der Nähe auf einem riesigen Sportgelände die Bürger der Mongolei die Aufmärsche zum 1.Mai üben.

Wir sind am späten Vormittag angekommen, beziehen unsere riesengroßen Zimmer im Hotel Bejangol, machen uns frisch und gehen zum gemeinsamen Essen. Als erste Einstimmung absolvieren wir eine sach- und fachkundig geführte Stadtrundfahrt mit vielen Erklärungen zu den wirtschaftlichen Fortschritten in der Mongolei. Auffallend viele Mercedes-Wagen in den Straßen dokumentieren die Anwesenheit politischer Prominenz. Durch hohe Bretterzäune abgeschirmt und damit dem Blick von außen kaum zugänglich, sind ganze Stadtviertel nichts anderes als Jurtensiedlungen mitten in der Stadt. Leider wird unser Wunsch, eine solche Siedlung zu besuchen, höflich aber bestimmt mit dem Hinweis auf mögliche Belästigungen der Bewohner abgelehnt.

Vom südlich der Stadt gelegenen Bogd Uul (Götterberg) hat man eine wunderbare Übersicht über die in einem weiten Talkessel am Fluss Tuul gelegene Stadt, in der mit 0,5 Millionen Menschen ein Viertel der Bevölkerung der Mongolei lebt. Von hier oben hat man auch einen guten Überblick über die Ausmaße der Jurten-Vorstädte.

Jurtenvorstadt Jurtenvorstadt (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Offizielle Erklärung unseres einheimischen Reiseleiters: Es ziehen leider mehr Menschen in die Stadt, als man Wohnungen errichten kann. Darüber hinaus benutzen viele Städter ihre Jurte in einem Außenbezirk als Sommerquartier, wenn die Frühjahrsfröste und Staubstürme vorbei sind. Wie intensiv dieser Staat noch mit der Vergangenheit verwurzelt ist, dokumentiert am eindrucksvollsten das überlebensgroße Stalin-Standbild vor der Akademie der Wissenschaften.

Ein starker Staubsturm hüllt plötzlich die ganze Stadt eine gelbe Wolke und treibt Unmengen Wüstensand durch die Straßen. Eine Menschenansammlung mit einem Meer von roten Fahnen mitten in der Stadt erweckt unser besonderes Interesse.

Aufmarsch zum 1. Mai Aufmarsch zum 1. Mai (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Es ist zwar erst der 27.April, aber die Vorbereitungen für den 1.Mai laufen auf Hochtouren. Zentral in der Stadt liegt ein großer rechteckiger Platz, der den Namen des mongolischen Freiheitshelden Suchbaatar trägt. Mitten auf dem Platz erhebt sich sein Denkmal.

Reiterstandbild des Freiheitshelden Suchbaatar Reiterstandbild des Freiheitshelden Suchbaatar (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Vor dem Regierungspalast der Volksrepublik Mongolei, der den Platz nach Norden hin begrenzt, wird der Aufmarsch der Werktätigen geprobt. Die Bebauung rings um den Platz spiegelt eine uralte Tradition wider. So, wie die Tür einer Jurte stets nach Süden weist, ist auch der Platz nach Süden, der Sonnenseite hin, offen.

Angenehm ist die absolute Zurückhaltung der Menschen, wenn wir uns ohne Begleitung in der Stadt bewegen. Zufriedene, strahlende und sehr viel jugendliche Gesichter, die manch einen verstohlenen Blick auf die Fremden werfen. Nur die Kinder können ihre Neugier über die doch wohl noch recht selten auftauchenden Europäer nicht verbergen. Welche Freude, wenn sie photographiert werden.

Kindergarten-Ausflug Kindergarten-Ausflug (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Historische Kulturschätze

Der Bogdo-Gegen-Palast (Kaiserpalast) wurde 1899 als Sitz des Vertreters des Dalai Lama im Stil des tibetisch-lamaistischen Buddhismus und, wie auch viele andere Klöster, aus Holz erbaut. Er ist ein beeindruckendes Beispiel lamaistischer Baukunst. Bis 1924 diente er als Regierungssitz und ist heute Museum. Bogdahan IV war als 5-jähriger zum Kaiser gekrönt worden und regierte hier bis zur Revolution. Besonders eindrucksvoll sind das Eingangstor mit seinen Inschriften in chinesischer, tibetischer und mongolischer Schrift, die geschwungenen Dachkonstruktionen mit bunt bemalten Balken und farbig glasierten Ziegeln und natürlich die komplett erhaltene Inneneinrichtung.

Einen Einblick in Vergangenheit und Gegenwart der Mongolei gewinnen wir im Staatlichen Zentralmuseum. Es enthält, neben einer großen prähistorischen Abteilung, reiche und beeindruckende kulturelle Sammlungen aus der Zeit von 300 v.Chr. bis zur Gegenwart und gibt damit Einblick in eine bewegte Geschichte, von der wir meist nur die Eroberungen des Dschingis-Khan kennen.

Weit liegt die große mongolische Zeit zurück. Nach der Vereinigung aller Stämme 1206 durch Dschingis-Khan vergrößerten seine Nachfahren das Reich immer mehr. Kublai-Khan verlegte dann sogar die Hauptstadt von Karakorum nach Peking. Aber schon 1368 befreiten sich die Chinesen von der mongolischen Vorherrschaft, und das Großreich zerfiel immer mehr. 1688 wurde der überwiegende Teil der Mongolei dem aufstrebenden chinesischen Reich angegliedert. Diese Fremdherrschaft dauerte bis 1911. 13 Jahre später wurde die VR Mongolei ausgerufen.

Den Tag beschließen wir mit einem ungeführten Bummel durch die Innenstadt. Es herrscht buntes Treiben in und um das Zentral-Kaufhaus. Zu kaufen gibt es alles. Wir sind überrascht von dem reichhaltigen Warenangebot. Den Abend, vielleicht sollte man besser ‘die Nacht’ sagen, verbringen wir in der riesigen Hotelhalle zunächst mit Wein, und als die ‘Viererbande’ zu uns stößt mit Whisky.*

Religions-Museum Kloster Lowsangchädub Religions-Museum Kloster Lowsangchädub (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Prachtvolles Kloster Lowsangchädub und Kloster Gandan

Prächtig anzusehen mit seinen mit grünen Ziegeln gedeckten geschwungenen Dächern ist das Kloster Lowsangchädub. Hier ist der starke chinesische Einfluss aus der Zeit der Mandschu-Herrschaft besonders auffallend. Leider ist eine Besichtigung nicht möglich, da das Kloster seit 1938 geschlossen und der Akademie der Wissenschaften als Religionsmuseum angegliedert ist.

Eingangstor Kloster Gandan Eingangstor Kloster Gandan (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Ein Besuch des einzigen aktiven Lama-Klosters der Mongolei ist besonders beeindruckend. Das von einer Mauer eingeschlossene Kloster Gandan wurde 1838 erbaut. Nicht nur auffallend viele junge Mönche bevölkern die intakte Anlage, auch viele junge Besucher fallen ins Auge. Gespräche werden geführt, Gebetsmühlen, mit tausenden von Wunschzetteln gespickt, werden gedreht, und im Tempel sind die Mönche in Andacht versammelt.

Klosterhof Gandan Klosterhof Gandan (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Pünktlich setzt sich unser Zug wieder in Bewegung. Wir haben den chinesischen Waggon Nr.1. Im Abteil neben uns reisen 6 junge Polen, die berichten, mit welcher Mühe es ihnen gelungen ist, die nötigen Visa zu beschaffen. Es sind nur noch 709 km bis zur chinesischen Grenze bei Dzamir Ude.

Die Fahrt geht weiter durch die weite Steppenlandschaft der Zentral-Gobi, die Berge weichen immer mehr zurück. Es gibt wenig Abwechslung neben der Strecke, ab und zu ein einzelner Kranich an einem kleinen Wassertümpel, Pferde- und Rinderherden oder auch ‘mal eine Kamelkarawane. Wiederholt hält der Zug in einem kleinen Dorf oder auch auf freier Strecke, dann fliegt ein Postsack auf den Bahndamm, und die Fahrt wird fortgesetzt. In der Ferne vereinzelt Staubfahnen, wenn ein Lkw über staubige Pisten durch die Steppe fährt. Vielleicht kommt er den Postsack holen? Spätabends fängt es doch mitten in der Wüste Gobi an zu regnen. Eine dicke schwarze Wolke segelt von Osten heran und ergießt dicke Tropfen in den gelben Wüstenstaub.

Jetzt ist es die 'Mongolische Eisenbahn' Jetzt ist es die ‘Mongolische Eisenbahn’ (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Um 05:30 Uhr erreichen wir die Grenze bei Dzamir Ude. In einer brettebenen Landschaft mit sandverwehten Gleisen steht ein Palast von Bahnhof. Ausdrücklich angesagt wird, dass absolutes Photographierverbot besteht. Der Zug wird von bewaffneten Patrouillen bewacht. Im Bahnhof ist hinter jedem Fenster eine Uniform zu erkennen. Aussteigen und am Zug auf und ab laufen ist gestattet, und so zögern wir nicht lange. Aber nur wenige Augenblicke an der frischen Luft und wir sind wieder im Abteil, zumindest, um etwas Warmes zum Überziehen zu holen. Die Außentemperatur liegt unter 0 C, und es bläst ein eisiger Wind. Über der Gobi geht die Sonne auf und überzieht die Wolke über dem Bahnhof mit einem lila Schleier.

Nach über 4 Stunden Aufenthalt setzt sich der Zug endlich wieder in Bewegung, um schon nach 15 Minuten in der chinesischen Grenzstadt Erlian einzulaufen.

Von Peking nach Shanghai (Paläste, Klöster, Gärten)

Bei strahlendem Sonnenschein passieren wir die Grenze zum “Reich der Mitte”. Fremdes und Neues haben wir bisher gesehen und erlebt, aber wenige Schritte auf chinesischem Boden reichen, um zu spüren, dass uns hier eine ganz andere Welt erwartet. Schon auf dem Bahnhof von Erlian empfängt uns eine Atmosphäre der offenen Sympathie. Man darf sich nicht nur frei bewegen, man bewegt sich auch frei. Während der gesamte Zug auf chinesische Spurweite umgerüstet wird, bummeln wir durch den Ort in ein nahegelegenes Hotel. Das erste chinesische Essen ist angekündigt. Als Esswerkzeug stehen europäische Bestecke und Stäbchen wahlweise zur Verfügung. Wie wir im Verlauf der Reise feststellen werden, übrigens das erste und das letzte Mal. Wir essen natürlich mit Stäbchen. Es schmeckt vorzüglich.

Und weiter geht es auf der Schiene. Als der Zug in Sai Han Tala einfährt, drängeln sich Menschenmassen auf dem Bahnsteig, um den Zug zu stürmen. In unserem 1.Klasse-Waggon sind die Plätze reserviert, und der Abteilschaffner prüft streng die Fahrkarten aller, die zusteigen wollen.

Die Wüste Gobi wandelt sich immer mehr von einer staubigen Steppe in echte Sandwüste. In der Ferne sind nur schemenhaft schmutzig-braune Gebirgszüge zu erkennen. Die Bahnlinie führt abwechselnd durch flaches Land und auf Dämmen oder über Brücken, die metertiefe von heftigen Regengüssen ausgespülte Einschnitte überspannen. Der Wind peitscht den Sand und bildet eine wellige Dünenlandschaft. Neben der Bahn auf beiden Seiten ein schmaler Gürtel windbrechender Anpflanzungen. Stellenweise hat die Wüste einen leichten grünen Schimmer, und es tauchen vereinzelt Schaf- und Ziegenherden auf. In der Ferne ziehen Kamelkarawanen vorbei. Kleine Dörfer und einzelne Anwesen huschen vorbei. Sie sind von Mauern aus gebrannten Lehmziegeln oder aufgeschichteten Steinen umgeben, die den starken Wind und den Treibsand abhalten. Die Windhosen, die den gelben Sand spiralförmig in die Höhe saugen, erinnern auch immer wieder daran, dass wir noch durch die Wüste fahren. Weiter im Süden folgen dann weite landwirtschaftlich genutzte Flächen. Der staubige dunkle Lössboden ist gepflügt und geeggt. Anscheinend wartet man nur auf den ersten Regen.

Als sich die Dunkelheit langsam über das Land senkt, ist für uns wieder der Speisewagen reserviert, und wir lassen uns das ausgezeichnete Abendessen schmecken. Nach einem weiteren Stopp in Jiying, hier hat die Transmongolische Eisenbahn Anschluss an das chinesische Eisenbahnnetz, beginnt die Nachtfahrt. Wir schlafen tief und fest. Im ersten Morgenlicht erkennen wir eine völlig veränderte Landschaft. Satte grüne Farben von einem bis zum letzten m² intensiv landwirtschaftlich genutzten fruchtbaren Land. Der Seidelbast blüht, und alle anderen Bäume tragen voll entfaltete Blätter.

Peking (Beijing) und Chinas historisches Erbe

Ankunft in Beijing (Peking) nach 2674 km Eisenbahnfahrt. Im Bahnhof herrscht ein unbeschreibliches Chaos. Hunderte von Menschen liegen in den Gängen und in der großen Wartehalle. Ob sie auf Züge warten oder hier nur kampieren, können wir nicht feststellen. Ein Bus steht auf dem Bahnhofs-Vorplatz und bringt uns zum in der Nähe gelegenen Hotel ‘International’, wo wir zunächst zum Frühstück gehen. In der Hotelhalle warten wir dann auf unsere Mitreisenden, die nicht mit dem Zug, sondern direkt mit dem Flugzeug aus Deutschland anreisten. Um 10:30 Uhr stoßen die Direktflieger zu uns. Herr Ripper und alle, die ihre Reise mit anderen Gruppen fortsetzen werden, verabschieden sich.

Von der angekündigten neuen Reiseleiterin ist weit und breit nichts zu sehen. Nach einer halben Stunde taucht eine Frau auf, vollbepackt mit Reisepässen und Zimmerschlüsseln. In einer umständlichen Prozedur, versucht sie dann Schlüssel und Pässe zu verteilen. Es ist ein Graus, das mit ansehen zu müssen. Wenn das unsere neue Reiseleiterin ist, steht uns einiges bevor. Irgendwie spricht sich dann auch herum, dass um 12:00 Uhr Mittagessen angesetzt ist. Die Zimmer sind noch nicht gerichtet, und mit der heiß ersehnten Dusche wird es somit auch noch nichts. Die obersten Etagen des feudalen Neubaus sind noch nicht ganz fertiggestellt. Nicht nur das Hotel ist neu, auch die goldbetressten dienstbaren Geister erstrahlen in frischen Farben.

Der Platz der Himmlischen Frieden - Tian An Men Der Platz der Himmlischen Frieden - Tian An Men (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Die erste Station der nachmittäglichen Stadtrundfahrt ist der ‘Platz des Himmlischen Friedens’ (Tian An Men). Fast eine Stunde bummeln wir über den großen Platz, der von Menschen überquillt. Sommerlich fröhliche Bekleidung rundum, herausgeputzte Kinder und nur hin und wieder ein Mann im blauen oder grünen Maolook. Mit dem Palast des Volkes, dem Tor des Himmlischen Friedens oder dem Denkmal der Volkshelden als Hintergrund, werden Photos von den Familien geschossen. Überall freundliche offene Gesichter. Manch’ ein wohlwollendes Kopfnicken ermuntert uns, nicht nur die Kinder zu photographieren. Heute ist der 1.Mai. Welch’ ein Unterschied zu den Bildern in Ulan Bator oder zu dem, was wir von früher zu sehen gewohnt waren. Kein Aufmarsch, keine Parade, keine Reden und Ansprachen, nur ein Meer von roten Fahnen erinnert noch an frühere Zeiten. China hat sich gewandelt, das ist schon am ersten Tag unseres Aufenthaltes zu sehen.

Bei allem, was man über China hört, liest, bzw. selbst erlebt, sollte man, da es unumgänglich ist, Vergleiche mit anderen kommunistischen Ländern anzustellen, immer zwei typisch chinesische Aspekte im Auge behalten. Dies’ ist erstens der Umstand, dass in China erst 1949 die Volksrepublik ausgerufen wurde, und zwar am 1.10. vom Balkon des “Tors des Himmlischen Friedens” durch Mao Zedong’ - das waren 30 Jahre später als in der Sowjetunion. Zweitens begründete Mao Zedong seinen Kommunismus nicht auf der Macht des Industrieproletariats, sondern schöpfte seine Macht aus einer Befriedung der Landbevölkerung; einer seiner größten politischen Schachzüge, denn seine Revolution konnte nur von Erfolg gekrönt sein, wenn er die Bevölkerung des immer wieder von Hungersnöten heimgesuchten Riesenreiches ernähren konnte.

Der Tian An Men-Platz liegt unmittelbar vor dem Südeingang des Kaiserpalastes, der ‘Verbotenen Stadt’. Im Norden schließt sich der Jingshan-Park mit dem Kohlehügel an. Durch den Park steigt man auf verschlungenen Pfaden hinauf zu einem kleinen Rundtempel. Von hier oben, von der Galerie des Tempels, hat man eine herrliche Rundsicht über die ganze Stadt. Ein riesiges buntes Mosaik breitet sich unter uns aus: Breite Straßen, große Plätze, am Horizont, im Dunst des feuchtwarmen Sonnentages, moderne Hochhäuser und Wohnblocks und überall dazwischen gestreut die geschwungenen Dächer historischer Gebäude, wie z.B. Glocken- und Trommelturm und natürlich der riesige Komplex des Kaiserpalastes. Aus dem Bei Hai Park leuchtet die Stupa der Weißen Pagode herüber.

Nordtor 'Tor der Göttlichen Militärischen Begabung' vom Kohlehügel
Nordtor ‘Tor der Göttlichen Militärischen Begabung’ vom Kohlehügel (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Das ist dann auch unser nächstes Ziel. Der Bei Hai-Park ist Chinas ältester und größter kaiserlicher Garten. Davon ist allerdings ein Großteil, nämlich der mittlere und der südliche See, nicht zugänglich, weil sich dort die politische Prominenz angesiedelt hat. Nur mühsam schieben wir uns durch das Gedränge im Eingangsbereich und über die Brücke des Ewigen Friedens auf die künstlich angelegte Insel im Nordsee. Wir wandern auf der Uferpromenade rund um die Insel. Die Wandelgänge, kleinen Pavillons und kunstvoll angelegten Gärten mit ihren verschlungenen Wegen lassen sich gar nicht alle aufzählen. Zudem ist heute ein unbeschreiblicher Besucherandrang, halb Beijing scheint auf den Beinen. Vor dem Park haben wir noch Zeit, die abfahrenden Besucher beim Sturm auf die ankommenden Linienbusse zu beobachten. Ob Mann, ob Frau, ob Groß, ob Klein, mit absoluter Rücksichtslosigkeit versucht jeder, selbst in den vollsten Bus noch hineinzukommen.

In einem Restaurant im Park am Sonnentempel kehren wir zum Abendessen ein. Die Organisation läuft noch nicht so recht. Unsere deutsche Reiseleiterin taucht vorsichtshalber unter. Die Nähe des Freundschaftsladens zu unserem Hotel nutzen wir am späten Abend für einen ersten Einkaufsbummel. Für Devisen, bzw. das offizielle Touristengeld, bekommt man nahezu alles. Wir erstehen einige typisch chinesische Handarbeiten, wie Scherenschnitte, Seidenbilder und Essstäbchen in Cloisonné.

Die Minggräber, etliche Kilometer außerhalb der Stadt, stehen am nächsten Vormittag auf dem Programm. Dem ‘Weg der Seelen’ folgend und durch die Allee der Steinernen Statuen, betreten wir das große und weitläufige Tal in dem 13 von 16 chinesische Kaiser mit Kaiserinnen und Nebenfrauen beigesetzt wurden.

Am Eingang zu den Minggräbern Am Eingang zu den Minggräbern (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Der Weg wird von Tier- und Menschenstatuen gesäumt, die heute leider alle von eisernen Gittern umgeben sind, um sie vor Beschädigung durch die vielen Besucher zu schützen. Von den bisher restaurierten zwei Gräbern besuchen wir das erste der Öffentlichkeit freigegebene, das von Kaiser Wanli (1572-1620). Man muss 27 m hinabsteigen, um die unterirdische 1200 m² große Grabkammer zu besichtigen. Tonnenschwere Marmortore verschlossen einst das Verlies, in dessen letztem Saal die drei Särge von Kaiser, Kaiserin und Nebenfrau stehen. Die als Grabbeigaben gefundenen Gegenstände, unter ihnen die Kaiserkronen, liegen heute im Museum.

Treppe in die Grabkammer Treppe in die Grabkammer (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

In einem Restaurant im Touristenzentrum kehren wir zum Mittagessen ein. Touristenzentrum heißt nicht, dass hier alles für Ausländer geschaffen wurde. Im Gewühl der Einheimischen gehen wir und ein paar andere Nicht-Chinesen völlig unter. Nein, es sind Chinesen, die die Stätten ihrer großen Geschichte bevölkern und bewundern. Jeder Chinese hat einen Tag in der Woche arbeitsfrei, und wir haben das Gefühl, dass jeder diesen Tag dazu benutzt, mit Kind und Kegel die großen Sehenswürdigkeiten zu besuchen. Auch hier gibt es natürlich Gelegenheiten, einzukaufen. Unterschiede zum Leben in der westlichen Welt gibt es ungezählte, aber Gemeinsamkeiten? Ja, auch die gibt es. Eine ist besonders augenfällig: Die Kinder sind scharf auf Cola wie bei uns! Der Tag ist etwas kühler als gestern, und der Himmel ist bedeckt. Richtig angenehm bei der Weiterfahrt.

Große Mauer bei Badaling Große Mauer bei Badaling (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Auf der ‘Großen Mauer’, die wir 85 km nordöstlich von Peking bei Badaling erreichen, weht aber ein unangenehm kalter Wind. Dies ist aber nicht nur ein imposantes Bauwerk wegen seiner Größe und Ausmaße. Es raubt einem den Atem, wenn man einige 100 m über Rampen und Treppen hinauf- und heruntergestiegen ist. Bei einer Verschnaufpause kommt man dann ins Grübeln darüber, welchen menschlichen Einsatz es wohl erforderte, diese Steine alle heranzuschaffen und aufzuschichten. Über Stock und Stein quer durchs Gebirge, nicht nur in ebenem Gelände, zog sich schon die erste, im Jahr 221 v. Chr. begonnene Mauer über 5.000 km hin, um das Land gegen die Feinde im Norden zu schützen.

Als sich die Chinesen in der Ming-Dynastie (1368-1644) von der mongolischen Fremdherrschaft befreiten, wurde die Mauer erweitert, verstärkt und erneuert, um die vertriebenen Mongolen an einer Rückkehr ins Reich der Mitte zu hindern. Mit ihren 6.350 km Länge, einer Breite von 5,7 m und einer Höhe von 8,5 m hat sie dennoch ihren eigentlichen Sinn, nämlich ein unüberwindlicher Festungswall zu sein, nie erfüllt. Chinas wechselvolle Geschichte ist durch die Mauer nie beeinflusst worden.

Gleich nach der Rückkehr in die Stadt sitzen wir wieder in gemütlicher Atmosphäre beim Abendessen beieinander. Das Programm lässt kaum Zeit für Erholung und Entspannung. Auf dem Programm steht der Besuch einer folkloristischen Veranstaltung in einem Theater, das den ethnischen Minderheiten vorbehalten ist. Die offizielle Politik räumt vielen Minderheiten ihre besonderen Rechte ein. Immerhin gibt es in der Volksrepublik China 55 nationale Minderheiten, von denen die meisten ihre eigene Muttersprache an den Schulen lehren und sie dann auch am Arbeitsplatz und bei Behörden sprechen.

Volkslieder, vorgetragen und begleitet von Gruppen in ihren Trachten, Instrumentalmusik auf uns unbekannten Flöten und Zupf- und Saiteninstrumenten werden vorgetragen. Den Höhepunkt bilden aber sehr beeindruckende akrobatische Darbietungen. Es ist bewundernswert, was die chinesische Akrobatiktradition, die schon im Kindesalter geeigneten Nachwuchs aussucht und fördert, hervorbringt. Schade, dass es für diese Veranstaltung kein Programm gibt, um nachzuvollziehen, aus welcher Region des Reiches die jeweiligen Darsteller kommen.

Überrascht sind wir von der zuvorkommenden und flinken Bedienung in unserem Hotel. Das Personal verkörpert einen Standard, den wir nicht erwartet hätten. Das Frühstücksbuffet ist einmalig. So ist es kein Wunder, dass wir auch den dritten Tag in Beijing wieder voller Tatendrang starten.

Schon um 09:00 Uhr wartet eine ca. 500 m lange 4er-Reihe vor der Mao-Zedong-Gedenkhalle, um am Sarkophag des ‘Großen Vorsitzenden’ vorbei zu defilieren. Wir werden direkt am Tor, das den Vorplatz des Mausoleums vom Tian An Men-Platz trennt, in die wartende Schlange eingeschleust. Ohne Gepäck und ohne Photoapparat wandern die Massen durch die Ehrenhalle und am Sarkophag Maos vorbei. Nach einer Stunde sind wir wieder im Bus und fahren zum Platz vor dem Mittagstor. Hier beginnt unser 3-stündiger Rundgang durch die Verbotene Stadt.

“Die Verbotene Stadt”, der ehemalige Kaiserpalast, durfte bis 1911 nur von der Familie des Kaisers und deren Bediensteten betreten werden. Von 14O7 bis 142O vom 3. Mingkaiser Yong Le erbaut, galt der Palast 5OO Jahre lang als das Zentrum des Reiches, als Nabel der Welt. Welche Kulturgüter man auch immer in China besichtigt, immer drücken sie auch bestimmte Eigenheiten chinesischer Kultur und Mythologie aus. Es gibt keinen Tempel, keinen Palast, dessen Formen und Farben nicht einer ganz bestimmten Symbolik folgen. Die purpurne Farbe des Kaiserpalastes symbolisiert das Zentrum des Kosmos. Wieviele Räume der Kaiserpalast hat, ist ganz einfach geklärt: Allein dem Himmel ist es erlaubt, einen Palast mit 1O.OOO Räumen zu haben, so mussten sich die “Söhne des Himmels” mit 9.999 zufriedengeben. Im Laufe der Zeit wurde viel um- und angebaut, der Grundriss jedoch wurde nie geändert.

Innenhof der 'Verbotenen Stadt' Innenhof der ‘Verbotenen Stadt’ (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Drei von Süd nach Nord verlaufende Achsen durchschneiden das Palastgelände, wovon die mittlere durch die Haupt- und Regierungsgebäude und die kaiserlichen Privatgemächer führt. Durch den südlichen Haupteingang, das “Mittagstor”, betritt man den Palast. Der äußere Hof wird von 5 Toren begrenzt, wovon das mittlere der drei nördlichen, das “Tor der Höchsten Harmonie”, von 2 die kaiserliche Macht versinnbildlichenden Bronzelöwen bewacht wird. Von hier betritt man den 9O.OOO (!) Personen fassenden Innenhof, an den sich die “Drei Großen Hallen” - hier spielte sich das offizielle Hofleben ab - anschließen. Alle drei stehen erhöht, so dass sich der Kaiser immer über allen anderen Anwesenden befand. Von den jeweils 3 Aufgängen der Halle durfte der mittlere nur vom Kaiser selbst benutzt werden.

Detail eines Bronzelöwen Detail eines Bronzelöwen (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Eine zentrale Rolle in der von Sinnbildern und Zahlen reichen chinesischen Mythologie spielt der Drache. Er durfte allein dem Kaiser als Symbol dienen. Reiher und Schildkröten symbolisieren langes Leben, 18 Weihrauchbecken stehen für die 18 chinesischen Provinzen. Das Dach der “Halle der Höchsten Harmonie” wird von 24 Säulen getragen, jede symbolisiert eine Stunde des Tages. Der Süd-Nord-Achse folgend, schließen sich die “Halle der Vollkommenen Harmonie” und die “Halle zur Erhaltung der Harmonie” an. Auf das normale Niveau des Kaiserpalastes führt ein sog. Drachenpflaster herunter, ein 2OO t schwerer Monolith, verziert mit allen nur denkbaren Symbolen kaiserlicher Macht, beherrscht natürlich von Drachenreliefs. Der anschließende private Bereich des Kaisers ist von einer purpurnen Wand umgeben, vor der vergoldete Bronzebecken stehen - Gefäße für Löschwasser.

Detail des Drachenpflasters Detail des Drachenpflasters (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Vom Innenhof vor dem “Palast der Himmlischen Reinheit”, dem offiziellen Audienzsaal seit 1662 - hier wurde 1922 die Hochzeit des bereits entthronten Kaisers Pu Yi gefeiert - gelangt man auf eine östliche Seitenachse des Palastkomplexes. Fast alle der folgenden Paläste, von denen wir nur den “Palast des Fastens” und den “Palast der Ahnenverehrung” besuchen, dienen heute als Museums- und Ausstellungshallen. Vor dem “Palast der Ruhe und Langlebigkeit” steht eine von nur noch drei in ganz China erhaltenen neun Drachenwänden.

Nach drei Stunden verlassen wir im Norden durch das “Tor der Göttlichen Militärischen Begabung” die Verbotene Stadt, voller Eindrücke aus einer über 5OO-jährigen Epoche kaiserlicher Macht in China, aber auch mit dem Wissen, nur Bruchteile dessen erfasst zu haben, was es in diesem über 1OO ha großen Komplex zu sehen gibt.

Detail der Drachenwand Detail der Drachenwand (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Ein Tag kann nicht nur aus Höhepunkten bestehen. Das Mittagessen ist eine einzige Katastrophe. So schlecht haben wir auf der ganzen Reise noch nicht gegessen. Dafür steht aber der nächste kulturelle Leckerbissen auf dem Programm: Der Himmelstempel. Fälschlicherweise wird als Himmelstempel sehr oft die ‘Halle der Ernteopfer’ bezeichnet, obwohl sie nur ein Teil, wenn auch der beeindruckendste, des Himmelstempels ist.

Es gibt wohl keinen sakral-kultischen Bau im alten China, der nicht eine Nord-Süd-Ausrichtung hat. So nimmt es also nicht Wunder, dass wir auch hier der Nord-Süd-Achse folgend, die Hauptsehenswürdigkeiten in dem 2,7 km² großen Tempelpark besuchen. Es sind aber nicht nur die Bauwerke als solches, die uns westliche Besucher faszinieren, es ist besonders auch die kultisch-sakrale Bedeutung des Ganzen mit seiner Beziehung zur Symbolik der damaligen Weltordnung. Der Himmelstempel wurde 1420 erbaut und diente ausschließlich den Kaisern als Gebets- und Opferstätte. Erst 1912 wurde er der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.

Halle der Ernteopfer Halle der Ernteopfer (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Das Hauptgebäude dieses Komplexes ist die ‘Halle der Ernteopfer’, ein runder Tempel mit 38 m Höhe und 30 m Durchmesser, für dessen Bau nicht ein einziger Nagel verwendet wurde. Das gesamte Innengebälk ist künstlerisch in leuchtenden Farben bemalt. Die Hauptlast des dreigeteilten Daches ruht auf 4 Säulen. Vom Zentrum des Tempelbodens hat man ungehinderten Blick bis in die Spitze des Dachgewölbes.

Innenraun der Halle der Ernteopfer Innenraum der Halle der Ernteopfer (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Durch ein Tor verlässt man den Vorplatz des Tempels nach Süden. Einer breiten Allee folgend erreichen wir zuerst die ‘Halle des Himmelsgewölbes’, die von einer sogenannten Echomauer umgeben ist, und dann den Himmelsaltar. Dieser 1530 errichtete Komplex wurde vom Kaiser nur einmal im Jahr betreten, und zwar zur Wintersonnenwende.

Welchen Einfluss eine heilige Zahl, in diesem Fall die “9”, sogar auf die Architektur hatte, dokumentiert die Anlage des Himmelsaltars. Die oberste Terrasse symbolisiert den Himmel. Ihre Steinplatten, die die Altarstufen bedecken, setzen sich aus 9 Segmenten beim innersten Ring und 9 mal 9 Segmenten beim äußeren zusammen. Diese Zahlensymbolik setzt sich bei der mittleren und der unteren Terrasse fort. Der unterste Ring besteht aus 27 mal 9 Segmenten und ist von 4 mal 27 Geländern umgeben. Damit nicht genug, der damalige Kaiser ließ den Tempel auch im 9. Jahr seiner Regierungszeit errichten.

Der Himmels-Altar Der Himmels-Altar (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Es war heute der heißeste Tag der Reise, 25°C bei strahlendem Sonnenschein. Etwas Zeit zum frischmachen bleibt noch, ehe wir sehr früh am Abend zu unserem ersten kulinarischen Höhepunkt aufbrechen. Ein Festessen mit ‘Peking-Ente’ ist angesagt. An den bisherigen Tagen haben wir schon verschiedene Gerichte kennengelernt und uns in verschiedenen Restaurants an den immer gleichen Ablauf eines chinesischen Essens gewöhnt. Da wir in öffentlichen Restaurants essen, ist generell auch das Publikum gemischt, und wir sitzen nie in separaten Räumen, die nur für uns Touristen hergerichtet sind. Heute ist jedoch alles etwas aufwendiger.

Jeweils acht Personen sitzen um einen großen runden Tisch. In der Tischmitte ist eine drehbar gelagerte Glasscheibe aufgesetzt. Jeder erhält ein Essschälchen, seine persönlichen Stäbchen und drei verschiedene Gläser. Da wir uns inzwischen eigene Stäbchen als Souvenir zugelegt haben, geben wir die steril verpackten hauseigenen zurück, bzw. ergänzen damit unsere Andenkensammlung. Nach und nach werden dann die einzelnen Speisen in Schalen und flachen oder tiefen Tellern auf die Glasplatte gestellt. Jeder kann sich dann das heraussuchen und mit seinen eigenen Stäbchen in seine Essschüssel vorlegen, was nach Aussehen und Struktur seinen Wünschen entspricht. Mit der drehbaren Glasscheibe kann man sich das jeweils gewünschte ‘herandrehen’. Reis wird vielfach erst sehr spät oder überhaupt erst auf Anforderung serviert. Unbestätigt bleibt die Information, dass Reis als das Essen der armen Leute nicht zu einem Festessen gehört und nur als Zeichen für den Gastgeber oder Wirt gilt, dass man nicht satt geworden ist.

In die drei Gläser wird ständig nachgeschenkt, dosieren muss man schon selbst. Es steht also immer reichlich Weißwein, Süßwein und Schnaps zur Verfügung, um entweder den Genuss zu erhöhen oder die Verdauung anzuregen. Der Schnaps ist sogar vom Edelsten, Original ‘Maotai’.

Selbst in China muss die ‘Peking-Ente’ etwas ganz Besonderes sein. Unser Kellner defiliert mit dem knusprig gebratenen Vogel auf dem Silbertablett um die Tische herum, damit jeder einen Blick d’raufwerfen kann und vor allem weiß, was er anschließend serviert bekommt. Anschließend wird dann ein Teller mit ca. würfelzuckerstückgroßem Entenfleisch auf das Glasrondell gestellt. Von der kandierten Knusperhaut ist nichts mehr zu sehen, ob sie wohl in der Küche verschwunden ist? Jeder pickt sich 2 oder wenn er Glück hat auch 3 Stückchen vom Teller und die Pekingente ist verschwunden.

Dennoch, es ist ein gelungener Abend mit einem ausgezeichneten Essen, den wir in bester Laune verbringen. Die gute Laune begleitet uns dann auch noch in die Rose-Bar im Hotel. Es ist der letzte Abend im Interkontinental. Drei Tage mit vollem Peking-Programm liegen hinter uns, und es gäbe noch so viel zu sehen. Das Tagesprogramm für morgen sieht aber noch einige Leckerbissen vor. Nur zunächst steht einmal der Kampf mit dem Gepäck an. Alles muss flugtauglich verpackt werden, und zwar so, dass notfalls auch ‘mal ein Stück verlorengehen kann. Von Herrn Ripper hatten wir gehört, dass er noch keine Chinareise ohne verlorenes Gepäck absolviert hat. Schon um 06:00 Uhr klingelt am nächsten Morgen der Wecker. Das Gepäck muss vor die Zimmertür gestellt werden zur Sammelabfertigung für den heutigen Weiterflug.

Bei strahlendem Sonnenschein und tropischen Temperaturen starten wir zu einer letzten Fahrt durch Chinas Metropole. Auffallend sind die vielen breiten Straßen mit Grünstreifen und Bepflanzungen. Jede kleine Fläche an Kreuzungen oder zwischen den Fahrbahnen wird zum Miniaturgarten gestaltet. Die Regierung hatte einen Aufruf erlassen, dass man sich mehr um die Bäume kümmern solle. Dieser Appell scheint angekommen zu sein, ob allerdings ganz freiwillig oder unter dem Druck von Betriebsorganisationen ist für uns natürlich nicht feststellbar.

Unser erstes Ziel ist der Zoo. Natürlich darf kein Pekingbesucher die Stadt verlassen, ohne das chinesische Wappentier, den “Panda”, im Original bewundert zu haben. Über 3 Stunden haben wir dann anschließend für den Besuch des Sommerpalastes.

Das Osttor des Sommerpalastes Das Osttor des Sommerpalastes (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Durch das ‘Osttor’ betritt man das Gelände dieses im Jahr 1153 als kaiserliche Sommerresidenz angelegten Parks. Während der Yuan-Dynastie, der Ming-Zeit und unter den Qing-Herrschern wurde ständig erweitert, vergrößert und ergänzt, so dass der heute 290 ha umfassende Park erst 1764 fertiggestellt war. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert wurde der Park und alle Gebäude durch die Europäer zweimal dem Erdboden gleichgemacht. 1903 baute man ihn wieder auf und 1949, dem Jahr der Revolution, wurde er wieder restauriert.

Sommerpalast Sommerpalast (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Durch die ‘Halle des Wohlwollens und der Langlebigkeit’, in der der Kaiserthron steht, gelangt man in den kaiserlichen Wohnkomplex. Wir steigen jedoch hinter der Halle hinauf zum ‘Garten der Geselligkeit’, denn den besonderen Reiz des Sommerpalastes macht die einmalige Kombination von Gebäuden und Gärten aus. Mittelpunkt dieses >Garten im Garten< ist ein Lotosteich, um den ein von vielen Pavillons unterbrochener Wandelgang führt. Mehrere Holztempel ergänzen das Bild dieser romantischen Anlage.

Der Aufstieg zum ‘Pavillon des Langen Lebens’ und dem in der Nähe stehenden Aussichtsturm wird durch eine phantastische Aussicht auf das Gelände des ganzen Komplexes und über den Kunming-See bis zur Siebzehnbogen-Brücke belohnt.

Wandelgang 'Langer Korridor' Wandelgang ‘Langer Korridor’ (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Gleich hinter der ‘Halle der Freude und der Langlebigkeit’, die die Privaträume der Kaiserin-Witwe Cixi beherbergt, betritt man durch ‘Das den Mond einladende Tor’ den 728 m langen Wandelgang ‘Langer Korridor’. Das Dach dieses Ganges wird von 273 Säulen getragen, die Dachbalken und die Kuppeln von 4 achteckigen Pavillons sind über und über bemalt, sowohl mit historischen und mythologischen Bildern als auch Landschaftsbildern. Auf halber Strecke ist der Gang unterbrochen, und man hat einen herrlichen Blick durch ‘Das die Wolken zerstreuende Tor’ hinauf zum ‘Pavillon des Wohlgeruches Buddhas’. Am Ende des Wandelganges trifft man dann auf das Symbol kaiserlicher Verschwendungssucht, das ‘Marmorschiff’.

Das Marmorschiff Das Marmorschiff (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Hier in der Südwestecke des Parks liegen auch Ausflugsboote für Fahrten auf dem Kunming-See. Bevor wir eins der Boote besteigen, kehren wir noch im Restaurant im ‘Haus ’ zum Mittagessen ein. Wir fahren quer über den See und werden am anderen Ende schon von unserem Bus erwartet. Als letzte Sehenswürdigkeit steht jetzt noch der Besuch des Lama-Kloster an.

Um die Mitte des 17. Jahrhunderts nahm der Einfluss des tibetischen Buddhismus in China sehr stark zu. So war es nicht verwunderlich, dass schon bald darauf der kaiserliche Tempel **‘Palast der Harmonie und des Friedens’ **in ein tibetisch-lamaistisches Kloster umgewandelt wurde. Das durch eine Geisterwand abgeschirmte, reich verzierte Haupttor führt durch einen Garten in den Klosterkomplex. Im ersten Hof stehen Glocken- und Trommelturm und zwei Stelenpavillons.

Vergoldeter Buddha im Kloster Yonghegong Vergoldeter Buddha im Kloster Yonghegong (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Durch die ‘Halle der Himmelskönige’ betritt man das eigentliche Kloster mit mehreren in Süd-Nord-Richtung angeordneten Hallen. Alle Hallen enthalten farbenprächtige Buddhastatuen, die teilweise mit Blumen und bunten Tüchern geschmückt sind. Viele Menschen verharren in religiöser Andacht vor ihren Heiligen. Ein riesiges gusseisernes Weihrauchgefäß in einem Innenhof nimmt die Räucherstäbchen der Gläubigen auf. Allerorts sind Mönche anwesend, vielfach in Gespräche mit den Besuchern verwickelt. Sehr viel erinnert hier an die Lamaklöster in Ulan-Bator. Da sind zum Einen die stark geschwungenen Dächer mit Glöckchen an den Enden, die Weihrauchgefäße und nicht zuletzt die Mönche in ihren braunen Kutten. Leider ist das Photographieren in den Gebäuden verboten, um die ganze Pracht der Innenausstattung im Bild festzuhalten. Auch ist die Halle mit der größten Statue zur Zeit wegen Renovierung geschlossen.

Was wird, wenn die alle Auto fahren ? Was wird, wenn die alle Auto fahren ? (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Dann bewegen wir uns langsam Richtung Flughafen. Im ‘Internationalen Club’ kehren wir zum Abendessen ein, machen bei der Weiterfahrt noch eine kurze Pause - keiner weiß warum - am Holiday Inn. Im Flughafen herrscht absolutes Chaos. Unsere Reiseleiterin weiß nicht einmal wie man Bordkarten beschafft. In letzter Minute klappt’s dann aber doch noch, und wir starten um 21:15 Uhr mit einer TU 154 ins 1.000 km entfernte Xian.

Die alte Kaiserstadt Xian

Es wird eine kurze Nacht. Bei tropischen Temperaturen landen wir um 23:00 Uhr in Xian und sind nach weiteren 30 Minuten im Hotel ‘Tan Cheng’. Aber was nützt das schönste Hotel, wenn es zu einigen Zimmern keine Schlüssel gibt, in anderen kein Licht brennt und im übrigen auch noch keine Koffer eingetroffen sind. Ob die wohl noch in Beijing stehen? “Nein, es ist alles organisiert,” sagt man uns, “nur die Chinesen sind halt noch nicht so recht auf Tourismus eingestellt”. Und Richtig, um 00:50 Uhr kommt der Lkw mit den Koffern auch tatsächlich an. Es ist wirklich eine kurze Nacht, denn morgen wollen wir ja nichts vom geplanten Programm streichen.

Die Hauptattraktion von Xian ist die sogenannte Terrakotta-Armee des ersten chinesischen Kaisers Qin Shi Huangdi (221-210 v.Chr.). Aus alten Aufzeichnungen wusste man zwar von einer großen kaiserlichen Grabanlage, schenkte diesen aber keine besondere Beachtung. 1974 stieß ein Bauer zufällig auf lebensgroße Figuren von Reitern und Soldaten. Nach heutigen Erkenntnissen befinden sich in dem bisher untersuchten Bereich, etwa 1,5 km vom Grabhügel entfernt, ca. 7600 Terrakotten. Bei den Figuren handelt es sich um eine ganze Armee lebensgroß nachgebildeter Infanteristen, Streitwagen, Kavalleristen und den dazugehörigen Befehlshabern. Ein Teil der Streitmacht wurde komplett ausgegraben und ist, durch eine Halle gegen Witterungseinflüsse geschützt, in ihrer ursprünglichen Schlachtformation zur Besichtigung freigegeben.

Nicht nur, dass alle Figuren in Originalgröße modelliert sind, es gleicht auch kein Gesicht dem anderen. Vermutlich wurden die Figuren aus ‘Normteilen’ vorgefertigt und die individuellen Züge, wie Nasen, Ohren, Bärte und Kopfschmuck dann einzeln nachmodelliert. Diese Individualität lässt noch heute die einzelnen Stämme des damaligen Reiches erkennen.

Wenn man dieses beeindruckende ‘unterirdische Reich’ gesehen hat, dann ist man auch bereit, den alten Aufzeichnungen zu glauben, die davon berichten, dass 700.000 Zwangsarbeiter daran gewirkt haben. Im benachbarten Museum sind noch viele andere Objekte zu bewundern, die aus der Nähe der Grabanlage des Kaisers stammen. Die Grabkammer selbst, die unter einem 47 m hohen künstlichen Hügel liegt, hat man bis heute nicht geöffnet. Ob wirklich nur, weil die alten Aufzeichnungen von vergifteten Sicherungsanlagen berichten, oder auch aus Furcht vor dem angeblich in großen Mengen verarbeiteten Quecksilber und den daraus resultierenden Dämpfen, wird nicht so einfach zu ergründen sein.

Quirliges Leben auch in Xian Quirliges Leben auch in Xian (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Xian, das schon vor 3000 Jahren Kaiserstadt war, erlebte seine Blütezeit mit damals 2 Millionen Einwohnern im 1. Jahrtausend unserer Zeitrechnung. Kein Wunder, dass die Stadt und ihre Umgebung reich an weiteren historischen Stätten und Kulturgütern ist. Ganz in der Nähe befinden sich die 43°C heißen Huaqing Chi-Thermalquellen, von denen man weiß, dass sie schon 800 Jahre v.Chr. als Gesundbrunnen dienten. Die Anlage mit Teich, Pavillons, Terrassen und Hallen ließ ein Tang-Kaiser vor 1.000 Jahren für seine Geliebte bauen.

Kaiserbad Hua Qing Chi Kaiserbad Hua Qing Chi (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Auf dem Weg zurück in die Stadt besichtigen wir noch eine Stickerei-Manufaktur. Es ist erstaunlich, unter welchen Bedingungen hier wahre Kunstwerke handwerklicher Geschicklichkeit entstehen. Schon aus 2 m Entfernung sind die Photovorlagen von den gestickten Originalen nicht mehr zu unterscheiden. Die dünnen Fäden, mit denen auch die feinsten Details von Blumen, Tieren und Landschaften gezaubert werden, sind kaum wahrnehmbar.

Die 73 m hohe, 7-geschossige ‘Große Wildganspagode’ hat einen quadratischen Grundriss und verjüngt sich nach oben, ein klassischer Bau der Tang-Zeit und eng verbunden mit der Verbreitung des Buddhismus in China. Sie wurde 650 n.Chr. errichtet, um 650 Bände buddhistischer Schriften einzulagern und vom Indischen ins Chinesische zu übersetzen.

Nach einem schwülwarmen und dunstigen Tag hat es die ganze Nacht über gegossen, und auch heute morgen gehen immer noch heftige Regenschauer nieder. Es ist sehr trübe. Trübe sind damit auch die Aussichten für ein Besichtigungsprogramm. Wir gehen ins Provinzial-Museum und versuchen, uns einen kleinen Überblick über die Frühzeit chinesischer Kultur und Kunst zu verschaffen. Außerhalb des Museums, das in einem alten Konfuzius-Tempel untergebracht ist, bilden 1.000 Gedenksteine den sog. Stelenwald. Inschriften und Bilder geben einen Einblick in Kultur, Religion und Philosophie der Frühzeit, die ältesten stammen aus der Zeit 200 v.Ch.

Nicht ganz so alt ist die 12 km lange Stadtmauer, die in der Ming-Zeit (von 1374 bis 1378 n.Chr.) errichtet wurde. Sie steht auf den Fundamenten der Mauern der vorchristlichen Kaiserstadt und bildet mit ihren 4 Stadttoren ein schier uneinnehmbares Bollwerk. Vom Turm des West-Tors hat man einen schönen Überblick über die Stadt und kann auch die Dimensionen der teilweise restaurierten, aber noch nicht begehbaren Mauer erfassen.

Markttag Markttag (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Als wir nach dem Mittag wieder ins Freie kommen, hat sich das Wetter total geändert, es ist strahlender Sonnenschein, geradezu ideal für einen Ausflug aufs Land. Die Gemeinde Ta Min ist unser Ziel. Hier sollen wir Einblick in den *Alltag einer chinesischen ‘Normalfamilie’ *gewinnen. Leider ist es schwer für uns, abzuschätzen, was echt und was touristische Schau ist. Es wirkt uns alles etwas zu aufgeräumt und zu geordnet in dem Haus - es ist natürlich bewohnt -, das man uns zeigt. Farbfernseher, Wandteppiche, Blumenschmuck sind das Auffälligste.

Da ist der Besuch der Dorfschule und des Gemeinde-Kindergartens schon wesentlich instruktiver, weil interpretierbar. In einigen ‘Klassenzimmern’ liegen die Jüngsten mit dem Kopf auf den Holzpulten und schlafen, andere spielen mit dem Wohnungsschlüssel der an einem Lederband um ihren Hals hängt, und eine Klasse intoniert ein Lied, als wir den Raum betreten. In einer Ecke des Flurs steht ein Billardtisch, auf dem in Wolldecken gewickelt die Babys aufgereiht wie Frachtgut schlafen. So wachsen Kinder auf, deren Eltern, ob freiwillig oder gezwungenermaßen, ‘dem Wohle des Volkes’ dienen. Draußen auf der Straße verkauft ein junger Mann frisches Lauch, umringt von einer Gruppe Hausfrauen, die diese Gelegenheit gleich für ein Schwätzchen nutzen. Das ist ein Teil chinesischer Alltag.

Kindergarten auf dem Lande Kindergarten auf dem Lande (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Am Nachmittag haben wir endlich Gelegenheit, das zu sehen, wovon wir glauben, dass es auch ein Stück chinesischen Alltags ist. Durch das dichte Gewühl des gedeckten Stadtmarktes drängeln wir uns vorbei an den Schüsseln, Fässern und Wannen mit all’ den Delikatessen, die sich in unserem täglichen Essen verstecken. Kleine Wasserschlangen, Eidechsen, 100jährige Eier und Hühnchen, aber auch ein überaus ansprechendes Sortiment frischen Gemüses und Säcke voller Gewürze werden feilgeboten.

Alltag in Xian Alltag in Xian (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Stadtverkehr Stadtverkehr (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Wir stehen an großen breiten Straßen und lassen den Strom der Rad- und Rikschafahrer an uns vorbeiziehen. Überhaupt, das Fahrrad, das ist in China zwar auch ein Gebilde mit zwei Rädern, was man damit aber alles machen kann, davon hatten wir vorher keine Vorstellung. Wir haben manch’ einen Transport gesehen, von dem wir jederzeit in voller Überzeugung gesagt hätten: ‘So etwas geht nicht’. Ein Sofa oder eine Kommode quer auf dem Gepäckträger, das ist ganz normale Fracht. Wenn es dann etwas größer wird, wie z.B. Schränke oder ganze Wohnungseinrichtungen, dann nimmt man ein Fahrrad mit 2 Rädern an der Hinterachse oder einen kleinen zweirädrigen Anhänger. Damit werden dann Güter transportiert, für die bei uns jeder einen kleinen Lkw mieten würde.

Stadtmarkt in Xian Stadtmarkt in Xian (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Wegen irgendwelcher Komplikationen, welche, erfahren wir nicht, können wir heute nicht mit der Bahn weiterfahren. Vermutlich ist irgendeine Regierungsdelegation in unserem Abteil. Damit wir aber keine Zeit verlieren, werden wir fliegen - ‘später’ heißt es. Also haben wir Zeit für ein Abendessen im Hotel Xian, organisiert von unserer Stadtführerin Frau Xi. Neue Information: Nein, nicht später, erst morgen ist wieder Platz in einer Maschine nach Luoyang. Also verbringen wir noch eine Nacht im ‘Tancheng’.

Die buddhistischen Höhlenklöster von Luoyang

Um 06:00 Uhr ist die Nacht zu Ende. 08:35 Uhr starten wir dann endlich in einer kleinen 2-motorigen Propellermaschine gen Osten. Nach gut einer Stunde, unter uns vom Gelben Fluss cañon-artig zerfurchte Lößlandschaft, setzen wir nach 389 km zur Landung an.

Luoyang ist nicht nur eins der Zentren buddhistischer Höhlenklöster, sondern auch eine uralte Stadt mit einer bewegten Vergangenheit. Durch seine Lage an der alten Seidenstraße erlebte es schon sehr früh im 6.-7. Jahrhundert seine Blütezeit.

17 m hohe Buddhafigur im Feng Xian-Tempel 17 m hohe Buddhafigur im Feng Xian-Tempel (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

In den Fels des Steilufers des Yi-Flusses gehauen, entstanden um 400 n.Chr die Longmen-Höhlen, als der vor 2.000 Jahren nach China eingedrungene Buddhismus durch die Herrscher der Wei-Dynastie stark gefördert wurde. Im Laufe von 400 Jahren wurden hier in mehr als 2000 Höhlen fast 100.000 Skulpturen geschaffen. Sehr viele dieser einmaligen Kultur-Schätze sind während der Buddhistenverfolgungen, durch Sammler und natürlich auch durch Witterungseinflüsse und Erosion stark zerstört. Trotzdem, die Reste sind immer noch sehenswert und bewunderungswürdig. Den Höhepunkt der durch Wege und Treppen erschlossenen Anlage bildet eine aus der Tangzeit stammende 17 m hohe Buddhafigur im Feng Xian-Tempel, eingerahmt von Bodhisattvas, Jüngern, Himmelskönigen und Wächterfiguren.

Bodhisattvas und Wächterfiguren im Feng Xian-Tempel Bodhisattvas und Wächterfiguren im Feng Xian-Tempel (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Vom gegenüberliegenden Ufer des Flusses, hier kehren wir in einem feudalen ehemaligen Herrensitz zum Mittagessen ein, kann man die gesamte 1 km breite Anlage übersehen. Das Essen ist nicht nur reichhaltig, sondern schmeckt auch wieder ausgezeichnet und wirkt typisch chinesisch.

Am anderen Stadtende befindet sich das älteste buddhistische Kloster Chinas, der ‘Tempel des Weißen Pferdes’, aus dem Jahr 68 n.Chr. Hier wurden die ersten buddhistischen Schriften ins Chinesische übersetzt. In der Nähe des Klosters erhebt sich die aus Lehmziegeln errichtete 24 m hohe ‘Wolkenkratzerpagode’ mit 13 quaderförmigen Geschossen.

Am Tempel des Weißen Pferdes Am Tempel des Weißen Pferdes (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Den Nachmittag verbringen wir inmitten des turbulenten Treibens in der hochinteressanten Innenstadt von Luoyang. Wir bummeln durch die Altstadt, wo noch Häuser mit einem zweiten holzverkleideten Stockwerk den Einfluss nicht-chinesischer Kulturen verraten. Hier arbeiten auf der Straße die Handwerker mit Werkzeugen, die wir als unbrauchbar bezeichnen würden. Wir werfen verstohlene Blicke in Hinterhöfe, die vollgepackt sind mit Unrat und Fahrrädern. Im Schatten großer Alleebäume stehen Fahrradanhänger mit frischem Gemüse, das von Kindern und alten Leuten verkauft wird, privat und aus dem eigenen Garten.

Noch einmal kehren wir in einem nur von Chinesen besuchten Restaurant ein. Es schmeckt wieder ausgezeichnet. Um 19:30 Uhr heißt es dann Abschied nehmen. Zu unserem nächsten Ziel werden wir mit dem Zug fahren. In einem Abteil zusammen mit einem anderen Ehepaar verlassen wir die Stadt Richtung Osten. In flotter Fahrt mit diversen Stopps dampft der Zug durch die chinesische Nacht.

Für die vor uns liegenden 900 km werden wir knapp 19 Stunden brauchen. Als wir um 06:30 Uhr als erste den “Waschraum” aufsuchen, sind wir doch arg gerädert. Auch wenn wir ‘weiche Klasse’ fahren, ist der Komfort nicht mit der ‘Transsib’ zu vergleichen.

Suzhou, Kulturzentrum im Yangtsekiang-Delta

Durch grünes Land Durch grünes Land (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Draußen zieht eine abwechslungsreiche Landschaft vorüber. Kurz vor Guzhen sind alle Äcker überschwemmt. Es muss kräftig geregnet haben, denn Reisfelder sind nicht auszumachen, die tauchen erst bei Bei Han im Tal des Huai He auf. Große Teiche, die mit Kanälen untereinander verbunden sind, dienen als Wasserreservoirs. Schlafende Kinder auf den Rücken von Wasserbüffeln, die auf den schmalen Wegen zwischen den Feldern grasen, Enten- und Gänseherden prägen das Bild der Landschaft. Ab Sanjie wird es dann etwas hügeliger. Der Zug fährt durch Nadel- und Laubwälder, die von vereinzelten Teeplantagen unterbrochen werden. Bei Chun Xian stoßen wir dann in die vom Reisanbau beherrschte weite Lößebene des Jangtsekiang-Deltas und überqueren bei Nanjing den Yangtse. Mit 30 Minuten Verspätung läuft der Zug in Suzhou ein. Es ist mit 25°C sommerlich warm.

Die Schönheit dieser Stadt ist oft gepriesen worden und spiegelt sich in ihren vielen Beinamen wieder. ‘Stadt der Gärten’, ‘Venedig des Ostens’ oder ‘Paradies auf Erden’ nennt man sie. Nur zwei der insgesamt 150 Gärten der Stadt werden wir besichtigen.

Der ‘Garten des Meisters der Netze’ ist nur 5.000 m² groß. Hier gewinnt man einen intensiven Einblick in die Jahrhunderte alte Tradition chinesischer Gartenbaugestaltung. Fast die Hälfte dieses 1140 entstandenen Komplexes ist bebaut mit kleinen Tempeln, Pavillons und Wandelgängen. Das Zentrum des Gartens wird von einem kleinen Teich gebildet. Die gestalterischen Elemente im Garten selbst sind Brücken, bizarre Bäume und durchlöcherte Tai Hu-Steine, die sich mit ihren bizarren Formen im Wasser des Teiches spiegeln und dadurch die Illusion der Weite noch verstärken.

Überraschenderweise fehlen niedrig blühende Pflanzen völlig, nur einige Azaleen und Rhododendren sind eingestreut. Die chinesische Gartenbaukunst hat nichts mit der Anlage von Beeten und Rabatten zu tun. Ihre vornehmste Aufgabe sieht sie darin, Harmonie zwischen draußen und drinnen herzustellen. Die Faszination dieser Kunst erlebt man bei einem Rundgang durch die Gebäude, Wandelgänge und über die Brücken. Mit jedem Schritt verändert sich der Blickwinkel, da die Wege im Zick-Zack verlaufen. Fast jeder Tordurchgang und jedes Fenster hat eine andere Form, und jedes Fenster ist darüber hinaus durch andere Latten-Dekore verkleidet, so dass sich die sichtbaren Ausschnitte des Gartens ständig verändern.

Hier, auf den 0,5 ha des ‘Gartens des Meisters der Netze’ lernt man verstehen, was gemeint ist, wenn der Chinese von Harmonie zwischen Landschaft und Gebäuden spricht. Hier begreift man auch, welche Gesetze die Anlage der ‘Verbotenen Stadt’ oder des ‘Sommerpalastes’ in Peking bestimmt haben. Schon aus der Antike sind Aufzeichnungen bekannt, die verlangen, dass Gärten und Bauten als etwas Künstliches, sich harmonisch in die Landschaft einzufügen haben. Im Ursprung der chinesischen Kultur, dem Taoismus, wird die Natur als der Ursprung aller Dinge betrachtet, und dieser Umstand beeinflusst seit nunmehr 2.500 Jahren die Gartenarchitektur in China. So nimmt es auch nicht Wunder, dass viele Gärten die Nachbildung bekannter Landschaften sind.

3.000 Jahre fast lückenlos belegbare Historie, es erfordert schon einige Konzentration, nicht all’ die Epochen der ‘Qin’, ‘Tang’, ‘Wei’, ‘Yuan’, ‘Ming’ und ‘Jin’ durcheinander zu bringen. Die Wandlungen in der höfischen Mode der letzten 1.400 Jahre erleben wir anlässlich einer Modenschau. Von der Tang- bis zur Ming-Zeit reicht die Spanne, aus der die teils exotischen Gebilde aus farbenprächtiger Seide stammen, die von Jungen und Mädchen präsentiert werden. Das Wetter ist umgeschlagen. Während gestern noch 25°C herrschten, ist die Temperatur heute um ca. 10°C zurückgegangen, und der Tag ist regnerisch-trübe.

Als der berühmteste unter den Privatgärten Suzhous gilt der ‘Garten des Verweilens’. Er trägt seinen Namen wirklich zu recht. Man möchte immer noch einmal herumgehen, in der Erwartung, doch noch einen neuen und unbekannten Eindruck zu erhaschen.

Harmonie im 'Garten des Verweilens' Harmonie im ‘Garten des Verweilens’ (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Der Besuch eines Instituts für Seidenstickerei - natürlich wechselt hier eine Tischdecke den Besitzer - und ein Bummel durch die lebhafte Innenstadt mit ihren vielen kleinen weißen Häusern mit schwarzen Dachziegeln, rundet das Bild von Suzhou ab. Viele dieser Häuser haben kein fließendes Wasser und auch keine Kanalisation. Mit einem Handwagen voller Plastikfässer fährt eine ‘Clofrau’ mittags durch das enge Menschengewühle der engen Gassen und sammelt den Inhalt der vor den Häusern stehenden Abfallkübel ein.

Fäkalienabfuhr anstatt Kanalisation Fäkalienabfuhr anstatt Kanalisation (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Auf dem Kaiserkanal in die Stadt Wuxi

Auf dem Kaiserkanal Auf dem Kaiserkanal (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Eng verbunden ist der Aufschwung von Suzhou mit dem Bau des Kaiserkanals Anfang des 6. Jahrhunderts. Einen Eindruck vom Leben auf und an dieser Verkehrsader vermittelt eine Bootsfahrt. Es ist nur ein winziges Stück, die 52,5 km, die wir in 4 Stunden bis Wuxi auf dem insgesamt 1.800 km langen Kanal zurücklegen. Es herrscht eine Verkehrsdichte wie zur ‘rush-hour’ in einer europäischen Großstadt. Frachtkähne, die teilweise sogar aus Beton gegossene Rümpfe haben, beladen mit allen Gütern, die beweglich sind, bahnen sich ihren Weg den Kanal ‘rauf und ‘runter. Breit ausladend und bis auf die Wasseroberfläche reichend mit Reisstroh beladen, zieht ein ganzer Konvoi an uns vorüber.

Auf dem Kaiserkanal Auf dem Kaiserkanal (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Industrie am Kaiserkanal Industrie am Kaiserkanal (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Im Bug fast aller Boote steht eine Person mit Flaggen und Trillerpfeife und signalisiert dem Gegenverkehr, wie er beabsichtigt, zu fahren. Mitten in diesem ‘Fernverkehr’ bewegen sich kleine Boote, die gerudert oder im nur 3 m tiefen Wasser gestakt werden. Die Ufer werden gesäumt von Industrieansiedlungen, nur hin und wieder unterbrochen von Maulbeerplantagen und anderen landwirtschaftlich genutzten Flächen. In einer kleinen Stadt legen wir kurz an und besuchen einen Wochenmarkt direkt am Ufer des Kanals. In Wuxi erleben wir eindrucksvoll die zweite Nutzungsart des Kanals. In einer pechschwarzen, übel riechenden dicken Brühe bewegt sich das Schiff durch einen Seitenarm des Kanals. Die Häuserwände ragen unmittelbar am Ufer auf. Hier ist der Kanal nichts anderes mehr als Abwasserkanal für Industrie, Handwerk und Private.

Häuserfront am Kaiserkanal Häuserfront am Kaiserkanal (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Im unmittelbar am Tai-See gelegenen Hotel ‘Seeblick’ beziehen wir Quartier. Ein weiterer und damit aber auch der letzte Höhepunkt des Tages ist das heutige Festessen mit 13 Gängen, Aperitif, Bier und Schnaps. Jetzt wechselt das Wetter täglich. Es liegt morgendlicher Dunst über dem See, aber es ist angenehm warm, als wir vor der Abfahrt noch schnell einen Blick in den schönen Park des Hotels werfen.

Wir besuchen eine Seidenspinnerei und erleben, welcher Aufwand nötig ist, ehe ein Seidenfaden überhaupt zur weiteren Verarbeitung zur Verfügung steht. Die eingehenden Kokons werden auf ein Förderband geschüttet und wandern an den geschulten Augen mehrerer Frauen vorbei, die alle beschädigten entfernen. Beim nächsten Arbeitsgang werden die Kokons gekocht, um die eingeschlossenen Raupen abzutöten. Die noch im heißen Wasser schwimmenden Kokons kommen in eine Schüttelrinne, in die Greifarme eintauchen und wie von Wunderhand die Enden des Seidenfadens ‘greifen’, um sie an einer Haspel zu befestigen. Unbegreiflich erscheint die Geschwindigkeit, mit der der Faden - man kann ihn mit dem bloßen Auge kaum erkennen - aufgespult wird. Vor der Einlagerung im Trockenraum wird noch einmal umgehaspelt. Stolz zeigt man uns das Versandlager für die Rohseide, in dem riesige Mengen fertig verpackt auf ihren Versand in alle Welt warten.

Der Dunst hat sich nicht gelegt, aber hin und wieder bricht doch die Sonne durch, als wir zum ‘Garten der Ergötzung’ aufbrechen. Jeder dieser Gärten, meist sind es mehr Parks, hat seine eigene Faszination, sind sie doch individuell den Vorstellungen ihres Erbauers angepasst, auch wenn sie im Prinzip alle den Regeln chinesischer Gartenbaukunst folgen. Beherrschendes Element hier ist ein Goldfischteich und Wasserläufe, die den ganzen Garten durchziehen und von vielen kleinen Brücken überspannt werden. Jeder Weg und jeder Gang ist mit dem einen Ziel angelegt worden: Er soll den Blick auf ein bestimmtes Objekt lenken.

Zur Komplettierung unseres Wissens über die chinesische Seide besuchen wir dann noch eine Raupenzucht. Leider erstreckt sich dieser Besuch nur auf eine Demonstration in einem Vorführraum. Auch die angeschlossene Muschelzucht bekommen wir nicht zu Gesicht.

Nach dem miesesten Mittagessen, das wir bisher in China serviert bekommen haben - man hat das Gefühl, zu der Masse zu gehören, die hier nach dem Motto abgefertigt werden: ‘Wuxi sehen, Geld abliefern und schnell wieder verschwinden’ -, besteigen wir ein Schnellboot, mit dem wir den Tai-See, der fünfmal so groß ist wie der Bodensee, überqueren. Verloren wirken einige wenige Dschunken auf der riesigen Wasserfläche. Bei Hochwasser dient der See als Auffangbecken für die Fluten des Jangtsekiang.

Im Süden läuft das Boot nach 3 Stunden flotter Fahrt in den Lauf eines Flusses ein, und kurz darauf steigen wir in Huizhou in einen Bus um. Es folgen 3,5 Stunden Fahrt durch eine interessante Landschaft, aber über eine weniger interessante Straße. Diese Straße soll erst entstehen. Baustelle reiht sich an Baustelle. Eine lehmig-schmutzige Piste, auf der sich tiefe wassergefüllte Schlaglöcher aneinanderreihen. Der Busfahrer hat selten Gelegenheit, einige davon zu umfahren, denn viel zu dicht ist der Verkehr. Was heißt schon dicht, er ist geradezu chaotisch; jeder versucht auf seine Weise, voranzukommen. Vor uns fallen von der Pritsche eines Lkw Koffer herunter - hoffentlich sind es nicht unsere. Der Fahrer bemerkt nichts und wird auch von niemandem darauf aufmerksam gemacht.

Es geht durch Bambuswälder, Maulbeer- und Teeplantagen. Nach einem kleinen Gebirgszug öffnet sich eine weite Ebene, die sich in allen erdenklichen Grüntönen vor uns ausbreitet. Es ist Reis in allen Wachsumsstadien. Leuchtend grün heben sich besonders die kleinen Rechtecke mit den Sämlingen für die Neukultur ab. Vereinzelte Hügel im flachen Gelände ragen dunkelgrün in den Himmel, sie sind dicht mit Teesträuchern bepflanzt.

Hangzhou und der Westsee (Xi Hu)

Wir erreichen Hangzhou und passieren dreckige Industrievororte auf dem Weg zum in unmittelbarer Nähe des Sees gelegenen Hotel ‘Seeblick’. Wieder ein verheißungsvoller Name. Leider ist das Abendessen kalt - wir sind angeblich eine Stunde zu spät angekommen - und geschmacklich auch nichts Besonderes. ‘In China ist alles im Umbruch, um sich auf den modernen Tourismus einzustellen. Wir müssen noch viel lernen’, sagt man uns, ob unserer Beschwerden über die klopfenden, hämmernden und bohrenden Handwerker im Hotel.

Bei strömendem Regen brechen wir am frühen Morgen zu einer Bootsfahrt quer über den Westsee (Xi Hu) auf. Dieser vor 1.000 Jahren künstlich angelegte See ist eingebettet in eine grüne Hügellandschaft. Vom Boot aus gewinnt man einen Eindruck, verstärkt durch den Dunst des warmen Regens, den sonst chinesische Tuschebilder vermitteln. Mitten im See liegt die “Insel der Drei Teiche, die den Mond spiegeln”, auch sie ist künstlich geschaffen. Warum sie auch ‘Das kleine Paradies’ genannt wird, erlebt man bei einem Rundgang. Drei kleine Seen bilden das Zentrum der Insel und sind die beherrschenden Elemente des die ganze Insel umfassenden Gartens. Vom Anleger des Schiffes gelangt man über eine Zick-Zack-Brücke durch ein Schmucktor zu mehreren Pavillons. Wandelgänge und Wanderwege durchziehen die ganze Insel. In den Teichen spiegeln sich die am Rande wachsenden Bäume und Bambusstauden. Auf den Seen schwimmen Lotosblüten. Eine besonders romantische Stelle dieses Parks ist am Westufer, wo drei Gebilde wie Pagodenspitzen aus dem Wasser ragen.

Am Huagangpark gehen wir wieder an Land und bummeln durch die wunderschöne Parklandschaft mit der uns so fremden Flora und den bizarren Steingärten. Ein Seidenladen, in dem ich meinen ‘Traumbademantel’ mit aufgesticktem Drachen erstehe, ist das Endziel, bevor wir zur ‘Pagode der sechs Harmonien’ weiterfahren. Auf einem Hügel, umgeben von riesigen Laubbäumen, erhebt sich das wuchtige Gebäude. Es gießt gerade ‘mal wieder fürchterlich, eine willkommene Gelegenheit für unsere Reiseleiterin, nur einen kurzen Aufenthalt einzulegen, allerdings mit dem Versprechen, uns etwas mehr von dem zu zeigen, was abseits des allgemein üblich Touristischen liegt. So ist unsere nächste Station ein Bonsai-Garten. Hunderte der skurilsten Gewächse sind eindrucksvoll in einem riesigen Park geordnet und zu zum Teil ansprechenden Kompositionen zusammengestellt. Zarte kleine Triebe wachsen aus altem Holz, gedrehte und verschlungene Äste bilden Figuren und arabeske Strukturen. In einem Wandelgang, zum Park hin nur durch eine leichte Gitterwand mit vielen Fenstern und Durchbrüchen getrennt, ist eine Ausstellung eingerichtet, die in einmaliger Weise Licht und Schatten mit den wirkungsvollen Gebilden verbindet.

Gut organisiert ist das Mittagessen in der Stadt. Es schmeckt wieder ausgezeichnet, und nach einer Stunde sind wir schon wieder unterwegs. Unsere deutsche Reiseleiterin hat sich abgesetzt und macht das Nachmittagsprogramm nicht mehr mit, da es ja fakultativ ist (einmalig diese Frau).

Im kleinen Park an der ‘Drachenbrunnen-Quelle’ ist gerade Dorffest. Im Park bieten Gruppen von Jugendlichen Musik und Tanz dar. Die Mädchen sind in leuchtende Kimonos gekleidet, tragen die dazu passenden Haartrachten und sind stark geschminkt. Rund um den Drachenbrunnen tritt eine Schüler-Theatergruppe auf und präsentiert eine Darstellung im Stil der Chinesischen Oper. Ringsum wird geredet, gelacht, gegessen und Spaß gemacht. Es herrscht eine ausgesprochen lockere Atmosphäre. Für uns ist das Ganze natürlich der Anlass zum Photographieren und Filmen. Ich schalte mein Tonbandgerät ein, um einige Aufzeichnungen zu machen. Es dauert nicht lange, und ein junges Mädchen hat das Mikrofon in der Hand. Mit Begeisterung trällert sie ihren Song nach Profimanier ins Mikro. Es bedarf vieler Gestik und Zeichensprache, um zu verhindern, dass ich das ganze Nachmittagsprogramm aufnehmen muss.

Kloster der Seelenzuflucht (Ling Yin Si) Kloster der Seelenzuflucht (Ling Yin Si) (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Von hier fahren wir noch für eine Stunde zu einem der berühmtesten buddhistischen Tempel Chinas, dem Kloster Ling Yin Si (Kloster der Seelenzuflucht). Der Haupttempel ist ganz neu restauriert und erstrahlt in frischen Farben, reichen Reliefs und Drachenfiguren an den Balustraden. Viele Menschen sind in Andacht vor den imposanten Buddhastatuen im Innern der Tempel versammelt. Draußen vor den Treppen der Gebäude stehen Tische und Drahtgestelle, hier werden Opferkerzen angezündet oder Räucherstäbchen in die aufgestellten Schalen und Gefäße gelegt. Die Andacht der Menschen ist so tief und echt, dass ich eine gewisse Scheu habe, zu dicht zum Photographieren heran zu gehen.

Mönche im Kloster der Seelenzuflucht (Ling Yin Si) Mönche im Kloster der Seelenzuflucht (Ling Yin Si) (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Nach dem Abendessen steht der Besuch einer Veranstaltung der Hangzhouer Jugend-Akrobatikschule auf dem Programm. Das ist Artistik in höchster Vollendung. Schüler und Jugendliche werden hier ausgebildet und ausgelesen, bis wirklich nur noch die Besten übrig sind. Wir sind hingerissen von der traumwandlerischen Sicherheit, mit der gesprungen, jongliert und balanciert wird. Obwohl dies ‘nur’ der Nachwuchs ist, können auch die Darbietungen des Chinesischen Staatszirkus nicht präziser und gekonnter sein.

Ein gelungener Tag mit vielen Einblicken in die chinesische Mentalität und Kultur. Unsere örtliche Reiseleiterin hat sich erfolgreich bemüht, kein ‘Touristen-Normalprogramm’ zu servieren. Ein kleiner Wermutstropfen bleibt allerdings, - der Westsee hätte zur Entfaltung seiner nur angedeuteten Schönheit Sonnenschein verdient -.

Weltstadt Shanghai

Heute hat meine Frau Geburtstag, und damit sie recht viel von diesem Tag hat, ist für 05:15 Uhr ‘wecken’ angesagt. Eine Stunde später sitzen wir dann auch schon beim Frühstück und um 07:30 Uhr im Zug nach Shanghai, wo wir das erstemal ungesüßten grünen Tee serviert bekommen. An den Geschmack muss man sich wirklich erst gewöhnen.

Die Fahrt geht durch intensiv landwirtschaftlich genutztes Gebiet. Alle Vegetationsstufen, vom goldgelben reifen Weizen bis zum Dunkelgrün der Reissetzlinge, sind in allen Farbnuancen vertreten. Das Land wird von vielen Kanälen durchzogen. Auf den größeren staken die Bauern ihre Kähne vorwärts, um die Ernte einzubringen oder zur Arbeit auf die Felder zu kommen. Kein Fleckchen des fruchtbaren Bodens bleibt ungenutzt. Selbst die Feldränder, Flussuferstreifen und Bahndämme sind bepflanzt mit Gemüse aller Art. Im Shanghaier Umland wandelt sich das Bild plötzlich, die Felder gehen in Gemüsegärten über. Hier lebt man von der Versorgung der Stadtbevölkerung.

Unzählige Male legt der Zug kurze und auch längere Aufenthalte auf einem Abstellgleis ein, um einen Gegen- und auch Überholzug vorbeizulassen. Der stehende Zug ist oft Gelegenheit für die Dorfjugend, die fremden Gesichter an den Zugfenstern zu entdecken und mit großen Augen zu bestaunen.

Staunende Kinder neben dem Abstellgleis Staunende Kinder neben dem Abstellgleis (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Bei strahlendem Sonnenschein laufen wir um 13:15 Uhr in Shanghai ein. Es ist brütend heiß. Unsere Reiseleiterin macht keinerlei Anstalten, auszusteigen, also machen sich einige von uns auf, die örtliche Reiseleitung in dem Menschengewühl auf dem Bahnhof zu suchen. Zunächst geht’s zum Mittagessen. Da wir ganz in der Nähe sind, dürfen wir auch einen 15-minütigen Abstecher zum Bund, der alten Prachtstraße aus der Glanzzeit Shanghais, machen. Schnell ein Blick auf die prachtvollen Häuser aus der Kolonialzeit, den Hafen und den dichten Verkehr, und schon werden wir zur Eile angetrieben. ‘Es steht ein volles Programm an.’

Hafen und Stadt-Silhouette von Shanghai Hafen und Stadt-Silhouette von Shanghai (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Der Kinderpalast ist der ganze Stolz der Stadt, das ist zumindest unser Eindruck, als wir durch diese Kaderschmiede geführt werden. In Arbeitsgruppen werden Kinder vom vierten Lebensjahr an geschult und gedrillt. Nur wenige der mehrere Millionen Kinder von Shanghai erhalten hier allerdings die Chance, sich ihren Neigungen entsprechend, außerschulisch zu Spitzenkönnern weiterzubilden. Die Eltern stehen Schlange, um ihre Kinder hier unterbringen zu können. Wer einen Platz erhält, muss wirklich außergewöhnliche Begabungen mitbringen und dann auch noch dem außerschulischen Stress gewachsen sein. Eine Vorführung der Arbeitsgruppe ‘musizieren’ ist für uns arrangiert. Virtuos und mit voller Konzentration spielen die 4-6-jährigen die Violine.

Aber ist das China? Wir wollen die Stadt sehen und nicht zur Besichtigung ‘sozialistischer Errungenschaften’ gezwungen werden. Dieser Wunsch stößt, wie andere vorher auch, bei unserer Reiseleiterin auf taube Ohren. ‘Wir dürfen mit unseren Wünschen die chinesischen Gastgeber nicht beleidigen!’, so ihre stereotype Antwort. Nach dem Abendessen treffen sich die Unzufriedenen in der Bar unseres Hotels ‘Jinsha’ und beratschlagen, was zu tun ist. Man einigt sich auf einen Beschwerdebrief an den heimatlichen Reiseveranstalter, mit der Androhung von Regressforderungen, wenn nicht das versprochene Programm abgewickelt wird, denn zu einer Programmkürzung in Hangzhou kommt jetzt noch die Mitteilung, dass der Besuch von Dazu ausfällt. Diese Änderungen führen dazu, dass wir ausgerechnet in Shanghai 2 Tage länger bleiben müssen, als vorgesehen.

Die Krisensitzung mit endlosen Diskussion beende ich mit einer Lage Sekt. Irgendwann muss ja auch noch etwas Geburtstagsstimmung aufkommen. Und sie kommt. Sogar ein Tänzchen legen wir in der Bar aufs Parkett, die Musik kommt vom Tanzsaal nebenan. Die Stimmung steigt, wohl auch, weil uns all’ die Diskussionen nicht so unter die Haut gehen. Wir können auch Urlaub machen und unsere Eindrücke sammeln, ohne die Auffassung eines Reiseleiters serviert zu bekommen. Nur die gestrichenen Reiseziele schmerzen. Als wir die Bar in bester Laune verlassen und vor dem Fahrstuhl warten, ist die Musik aus dem Tanzsaal noch viel besser zu hören, als vorher. Die Wartezeit am Fahrstuhl vertreiben wir uns mit einem Tanz im Treppenhaus, und unter dem Beifall chinesischer Zuschauer - wo kamen die bloß alle so schnell her - ‘geben wir noch eine Zulage’.

Aggressiv und arrogant taucht am nächsten Morgen die uns zugeteilte City-Führerin auf. Die Gruppe ist angeheizt, und das Tagesprogramm ist auch nicht angetan, die Gemüter zu beruhigen. Wir fahren hinaus auf’s Land, um eine Volkskommune zu besichtigen. Man versammelt uns im Vortrags- und Sitzungssaal zu einem Vortrag über die Vorzüge einer Kommune. Dann besichtigen wir eine Keramikbrennerei, in der Tonfiguren-Nachbildungen der Terrakotta-Armee hergestellt werden. Das war’s. Eine Hemdenfabrik zeigt noch eindringlicher die unmöglichen Zustände, unter denen die Arbeiterinnen ‘werkeln’ müssen. Eine riesige Fabrikhalle mit blinden und zum Teil zerborstenen Fenstern ist mit langen Tischen angefüllt, an denen Frauen unter tiefhängenden Leuchtstofflampen zuschneiden, nähen - immer ein bestimmtes Teil - und zusammensetzen. Die Verkaufsausstellung kann auch kein großes Geschäft machen. Da zur Zeit Hemden für Indonesien gefertigt werden, steht keine einem Europäer passende Größe zur Verfügung.

Wieviel Personen in den Wohnungen der Häuser rings um die Hemdenfabrik leben müssen, können wir nicht in Erfahrung bringen. Die Balkone sind vollgestellt und -gehängt und von riesigen Wäschetrockengestellen überspannt, also voll in den Lebensbereich mit integriert, aber nicht als Platz der Erholung und Entspannung. Zum Mittag kehren wir auf einem angeblich privat bewirtschafteten Bauernhof ein. Das Essen schmeckt vorzüglich, besteht aber fast nur aus Gemüse; selbst das sonst übliche Hühnerfleisch fehlt.

Statt Windeln Statt Windeln (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Etwas Kultur wird uns dann doch noch geboten. Der Jadebuddha-Tempel unterscheidet sich von anderen Tempeln zunächst durch sein Alter. Er wurde erst 1921 fertiggestellt, um zwei Buddha-Statuen aufzunehmen, die ein Mönch 1881 von einer Pilgerfahrt nach Burma mitbrachte. Es sind nicht nur die beiden Jadebuddhas, sondern auch andere Statuen, die durch die Feinheit ihrer Arbeit ins Auge fallen. Auch dieses Kloster ist in Betrieb und dient nicht nur als Museum. Mönche, die nicht bei der Andacht weilen, bewachen die kostbaren Schätze und wachen darüber, dass das strenge Photographierverbot auch eingehalten wird. Es herrscht reger Besucherandrang, darunter anscheinend auch viele Familien und Angehörige der Mönche, was man aus den herzlichen Begrüßungs- und Verabschiedungszeremonien schließen kann.

Für die Shanghaier zählen die Errungenschaften der sozialistischen Zeit aber mehr, als alle die Historie ‘glorifizierenden’ Stätten. So nimmt es nicht Wunder, dass wir uns plötzlich am Messegelände wiederfinden. Mit Verzückung wird das imposante Gebäude des Haupteingangs erläutert, verbunden mit der Empfehlung, unbedingt die Geschäfte im Inneren zu besuchen. Die Besonderheiten der Geschäfte? Es gibt viel japanische Elektronik. Das typisch Chinesische haben wir woanders besser präsentiert bekommen. Vielleicht sind es auch die Begleitumstände, die in uns eine negative Einstellung zu Shanghai erzeugt haben. Hier bekommen wir all’ das zu sehen, was allerdings nur unsere chinesische Reiseleiterin als einen Fortschritt empfindet.

Nanking Road Nanking Road (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Die Nanking Road strahlt allerdings etwas Besonderes aus. Wir haben einen freien Nachmittag und können uns unbeeinflusst in der Stadt umsehen und treiben lassen. Das ist China!! Brodelnde Menschenmassen. Auf der wirklich breiten Straße, die in 3 Zonen geteilt ist, herrscht Betrieb, wie wir ihn aus keiner anderen Großstadt der Welt kennen. Die mittlere Fahrbahn, durch Gitter von den Fußgängerbereichen getrennt, ist gerade so breit, dass zwei Busse aneinander vorbeifahren können. Eine Möglichkeit, die Straße zu überqueren besteht nur an den ampelgeregelten Kreuzungen. Im Hauptgeschäftsbereich ist sogar das Radfahren verboten! Der linke und der rechte Streifen der Straße, jeder einzelne breiter als die mittlere Autospur, sind ausschließlich den Fußgängern vorbehalten. Und von denen gibt es mehr als genug.

Verkehrsregelung in der Nanking Road Verkehrsregelung in der Nanking Road (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Eingekeilt in die Massen, lassen wir uns weiterdrücken. Es gibt nur wenige Stellen, an denen man Luft holen und die Orientierung neu gewinnen kann. Von einer Brücke über die Straße, unmittelbar am Kaufhaus Nr.1, lässt sich das Gewühl wunderbar beobachten. Im Kaufhaus selbst löst sich dann das Rätsel dieses unbeschreiblichen Andrangs. Es gibt buchstäblich alles zu kaufen, was man sich vorstellen kann, und es wird alles gekauft. Schmuck- und Kosmetikstände sind dicht belagert. Dicke Teppichrollen, riesige Kisten mit Fernsehgeräten, Geschirr, Farben und Tapeten werden zum Teil von mehreren Personen gleichzeitig davon geschleppt. Alles spielt sich in einer unbeschreiblichen Hektik ab, als ob morgen der ganze Rausch vorbei sein könnte.

Ähnlich ist es in anderen, nicht ganz so großen Kaufhäusern. Auch die kleinen Einzelhandelsgeschäfte - vom Juwelier über das Blumengeschäft bis zum Schuhladen ist alles vertreten - werden stark frequentiert. Wir genießen es, unabhängig zu sein, und lassen uns durch das Gewühl treiben.

Aus einem Restaurant kommen mehrere Brautpaare. Der Andrang beim Standesamt soll so stark sein, dass man sich schon mit anderen zusammentun muss, wenn man in einem Restaurant feiern will. Wer nicht eine gewisse Zeit verheiratet ist, erhält keine Wohnung zugewiesen. Wer keine Wohnung hat, darf aber auch nicht heiraten. Ein unlösbares Problem? Nicht in China, als vorhandene Wohnung gibt man die der Eltern an, und da muss man am Anfang dann wohl auch erst’mal unterschlüpfen, auch wenn jedem Einwohner von Shanghai zur Zeit nur 3 m² Wohnraum zur Verfügung stehen.

Wohnungen werden gebaut, davon haben wir uns selbst überzeugt. Ein Blick aus dem Hotelfenster gewährt einen tiefen Einblick ins Shanghaier Bauwesen. Wir blicken direkt auf ein Baugrundstück, auf dem mehrere Mehrfamilienhäuser errichtet werden. Taghell ist es während der Nacht in unserem Zimmer; mit modernsten Halogenscheinwerfern wird die gesamte Baustelle angestrahlt. In atemberaubendem Tempo im 3-Schichtbetrieb wachsen die Gebäude in die Höhe, alle 24 Stunden eine Etage an jedem Gebäude, in Ziegelbauweise Stein für Stein gemauert. Wenn man sich jetzt noch vorstellt, - wir Europäer neigen ja dazu, alles mit unseren Maßstäben zu messen - was hier mit modernen Methoden geschaffen werden könnte, dann wäre das Wohnungsproblem der Stadt sicher in halber Zeit gelöst. Andererseits gäbe es, und das gilt nicht nur für das Bauwesen, eine Menge Arbeitslose, wenn man mehr Maschinen einsetzen würde.

Eine über zweistündige Akrobatik-Schau in der ‘Akrobatik-Halle’, einem riesigen Rundbau, lockt mehrere Tausend Menschen an. Es ist alles etwas bombastischer als die Vorführung in Hangzhou und wohl auch deshalb eine gute Ergänzung unserer Eindrücke von Shanghai.

Jeden Tag haben wir anderes Wetter. Es ist kühl, aber immer noch bedeckt. Wir wollen in die Altstadt, müssen aber erst noch das lustlose und träge Frühstückspersonal im Hotel über uns ergehen lassen. Bei unserer Busfahrt in die Stadt gewinnen wir noch einige andere Eindrücke. Shanghai ist ein Moloch mit erdrückendem Verkehr. Bis in den Bereich der Innenstadt reicht eine völlig strukturlose Bebauung, mit kleinen armseligen Einzelhäusern zwischen himmelwärts strebenden Wolkenkratzern. In der Altstadt, dem früheren Chinesenviertel, hat sich allerdings in den letzten 100 Jahren nichts geändert. Enge Gassen mit vielen Holzhäusern, einem unbeschreiblichem Gewirr von elektrischen Freileitungen, dunklen Läden und Restaurants, durch das sich Fußgänger, Radfahrer, Handkarren und hin und wieder ein unentwegter Autofahrer zwängen. Hier kann man wirklich die Orientierung verlieren und sich verlaufen, aber eben auch die traditionelle chinesische Atmosphäre erleben.

Erinnerungsfoto Erinnerungsfoto (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Zentral in der Altstadt, über die ‘Neun-Biegungen-Brücke’ zu erreichen, liegt inmitten eines Goldfischteichs Shanghais berühmtes Teehaus ‘Hu Xin Ting’, das ‘Teehaus im Herzen des Sees’. Das ist der Touristenmagnet. Selbst wenn wir Zeit gehabt hätten, es hätte wohl Stunden gedauert, einen Platz zu ergattern.

Da sich Geister nach chinesischer Vorstellungswelt nur geradeaus bewegen können, lassen wir sie beim Passieren der Zick-Zack-Brücke hinter uns und erreichen den Eingang des Yu Yuan, des Gartens des Mandarins Yu. Schöne Pavillons, Goldfischteiche, ein künstlicher Hügel und zahlreiche Tempel sind durch Wandelgänge und verschlungene Wege miteinander verbunden. Der Park wird durch Mauern mit Türen und Tore in verschiedensten Formen in einzelne Bereiche aufgeteilt.

Im Yu Yuan - dem Gartens des Mandarins Yu Im Yu Yuan - dem Gartens des Mandarins Yu (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Nach dem Mittagessen in einem gepflegten Restaurant am ‘Bund’, brechen wir zu einer Dampferfahrt auf dem Fluss Huangpu auf. Die Hafenkais am Südufer, genau gegenüber vom ‘Bund’, sind eine Ansammlung von Rost. Baufällige, quietschende Kräne beladen Schiffe, die den Eindruck vermitteln, als ob sie das offene Meer überhaupt nicht mehr erreichen würden. Völlig überfüllte Fähren, die aussehen, als ob sie jeden Augenblick auseinander fallen, bringen Menschenmassen über den Fluss und weiter stromabwärts. Freundlich und lachend wird unser Winken erwidert. Auf dem Fluss herrscht reger Betrieb. Im Überseehafen liegt ein europäischer Kreuzfahrer am Pier. Wo sich das Wasser des Huangpo mit den gelben Fluten des Yangtsekiang mischen, in der Ferne ist die Silhouette des Stahlkombinats von Baoshan auszumachen, wendet unser Schiff, um die Rückfahrt anzutreten.

Auch wenn Shanghai nicht das typische China repräsentiert, sind an dieser Stelle einige Anmerkungen allgemeiner Art angebracht. Man nennt Shanghai die heimliche Hauptstadt Chinas. Sicher, hier herrscht ‘action’, hier brodelt und kocht es, hier wird geschaffen und geschuftet. Aus Shanghai kommen viele der revolutionären Köpfe der Vergangenheit und der Gegenwart. Natürlich braucht ein Land wie China Aktivität und industriellen Fortschritt. Nur, ob sich das auf das ganze, doch überwiegend landwirtschaftlich orientierte Riesenreich übertragen lässt? Ich habe meine Zweifel, und muss immer an die Mao’sche Theorie denken: ‘Nur mit einer befriedeten Landbevölkerung lässt sich China regieren’. Revolutionen mögen aus den Städten wie Shanghai kommen, die werden vielleicht auch manch’ ein Regime hinwegfegen, ob sich dadurch aber etwas für ganz China ändert?

Im Kloster Long Hua Im Kloster Long Hua (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Heute, unsere Abreise aus Shanghai steht an, scheint natürlich die Sonne, und dabei ist es tropisch heiß. Gegen den Willen unserer City-Führerin, die partout nicht verstehen will, was uns daran so reizt, besuchen wir vor unserer Fahrt zum Flughafen noch das Kloster und die Pagode Lunhua. Der Ursprung dieser Anlage wird ins 3. Jahrhundert zurückgeführt. Seine jetzige Form erhielt die Pagode im Jahr 977. Hier draußen genießen wir wieder die Ruhe eines nur von Einheimischen besuchten Ortes der Besinnlichkeit. Gelassen wandern Mönche durch die Anlagen und Klostergebäude, andere sitzen, versunken in tiefe Andacht oder beim Gebet, in den herrlich ausgestatteten Räumen. Die geschwungenen schwarzen Dächer kontrastieren zum strahlenden Gelb der Wände der Tempelbauten. Ein versöhnlicher Ausklang eines stressigen Shanghai-Aufenthalts.

Außenmauer des Klosters Long Hua Außenmauer des Klosters Long Hua (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Fluss-Kreuzfahrt auf dem Yangtsekiang von Chongqing (Provinz Sichuan) durch die ‘Drei Schluchten’ nach Yueyang

Auf dem Weg zum Flughafen holen wir noch Lunchpakete aus einem Hotel ab, da die Zeit nicht für eine Mittagspause reicht. Mit nur wenigen Minuten Verspätung starten wir zum 2 12-stündigen Flug in die Provinz Sichuan. Um 14:45 Uhr landen wir, nach einem Flug über Gebirge, riesige Reisterrassen und nach diversen Überquerungen des Yangtsekiang, der sich gelb - gelber kann der Gelbe Fluss auch nicht sein - durch die Landschaft windet, in Chongqing.

Schwül-heiße Luft (31°C) steht über der Stadt. Es ist nicht unser Hotel, das wir als erstes ansteuern. Auf einem Hügel steht, im Stil des Pekinger Himmelstempels errichtet, ein moderner Prachtbau, die Große Halle des Volkes.

Die Große Halle des Volkes in Chongqing Die Große Halle des Volkes in Chongqing (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Die Altstadt liegt unmittelbar auf der Landzunge Chao Tian Men (‘Tor, das den Himmel grüßt’), die durch den Zusammenfluss des Jialing und des Yangtsekiang gebildet wird. An den steilen Hang gebaute Häuser und schmale Gassen mit Treppen beherrschen das Bild dieses Stadtteils. Hautnah erleben wir in dem engen Gewühl das Treiben und den Alltag der Bewohner mit. Vor den Türen sitzen die Alten bei einem Schwätzchen oder spielen Karten. Die Wäsche flattert auf langen Leinen vor den Häusern. Hinter vergitterten Fenstern gackern die Hühner, vor der Tür werden die frischen Eier verkauft. Männer und Frauen schleppen jeweils zwei volle Körbe Kohle, die an einem Balken auf ihren Schultern hängen. Vielfach wird auf der Straße gekocht. Der Herd steht im Freien vor dem Haus, mit allen Küchenutensilien in greifbarer Nähe.

Altstadtleben in Chongqing Altstadtleben in Chongqing (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Lastenträger Lastenträger (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Kohlekörbe Kohlekörbe (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Den Nachmittag verbringen wir in der Innenstadt. Es ist Markttag und dadurch sicher noch mehr Betrieb, als sonst üblich in der 14-Millionen-Stadt. Händler haben ihre Waren auf Tischen am Straßenrand ausgebreitet, dazwischen Tische mit ansprechend dekorierten und drapierten Tellern mit Speisen, Obst und Gemüse.

Schnell-Imbiss Schnell-Imbiss (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Durch die Straßen eilen Lastenträger und Menschen mit Handkarren. Vor den Geschäften herrscht zum Teil beängstigender Andrang. In den kleineren Nebenstraßen hämmern und löten die Kesselschmiede und reparieren alte Töpfe und Pfannen. Eine Szenerie, die das Photographenherz höher schlagen lässt.

Lastentransport Lastentransport (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Vom Pipaberg, hoch über der Stadt, kann man die Flüsse und die vielen Anlegestellen mit den den Yangtsekiang befahrenden Fähren überblicken. Es herrscht reger Betrieb auf dem Fluss. Irgendwo da unten muss auch unsere Fähre liegen. Unser Hotel, wir haben Zi.5220, suchen wir erst nach einem, diesen gelungenen Tag beschließenden, ausgezeichneten Festessen mit Gerichten der schärfer gewürzten Sezuan-Küche auf.

Da unten liegt unser Flussdampfer Da unten liegt unser Flussdampfer (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Über zwei Tage werden wir 1.000 km auf dem Yangtsekiang, dem mit 6.380 km längsten Fluss Asiens, stromabwärts fahren, nicht auf einem der noblen Touristendampfer, sondern auf einer der normalen Fähren der Serie ‘Der Osten ist Rot’, die regelmäßig auf dem Fluss verkehren.

Um 08:00 Uhr heißt es ‘Leinen los’, und das Schiff dreht seinen Bug nach Osten. Im Dunst des beginnenden Tages liegt der breite Strom vor uns. Nachdem wir das Gepäck in unserer Kabine auf dem Bootsdeck, dessen vordere Hälfte komplett für uns reserviert ist, verstaut haben, geht’s zunächst zum Frühstück. Auch dafür steht den 1.Klasse-Passagieren ein eigenes Restaurant zur Verfügung. Die Bordküche ist ausgezeichnet, wie wir während des Mittagessens feststellen können. Der vordere Teil des Bootsdecks mit dem anschließenden Aufenthaltsraum mit Bar steht ausschließlich den 1.Klasse-Passagieren zur Verfügung. Wir wollten zwar recht ‘volksnah’ reisen, aber nach einem Rundgang durchs Schiff sind wir froh, zwar nicht eingesperrt, aber doch separiert zu sein. Schlafsäle überall, Gänge und Treppen sind überfüllt. Man steht, liegt und schläft, wo man einen Platz gefunden hat. Das Reisegepäck besteht aus Säcken, Kisten und Käfigen mit lebenden Tieren.

Die Stadt Fuling am Yangtsekiang Die Stadt Fuling am Yangtsekiang (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Den Tag verbringen wir in der warmen Sonne auf dem vorderen Bootsdeck. Die vorbeiziehende Berglandschaft ist ohne besondere Höhepunkte. Hin und wieder eine Pagode auf einem Hügel in Ufernähe, Bauern auf den Feldern. Interessant wird es immer dann, wenn wir uns einem Hafen nähern. Die ersten Anlegepunkte sind Fuling am Südufer, so um die Mittagszeit und dann am späten Nachmittag für ca. 1,5 Stunden Zhong Xian am Nordufer.

Die Stadt Zhong Xian am Yangtsekiang Die Stadt Zhong Xian am Yangtsekiang (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Während unterwegs nur ab und zu ein Boot auf dem Fluss zu sehen ist, oder uns eine Fähre aus Osten entgegenkommt, herrscht rund um die Städte geschäftiges Treiben auf dem Wasser.

Gegenverkehr Gegenverkehr (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Ruderboote, Fähren und Frachtkähne beleben den Fluss. Geschäftig geht es auch um unsere Fähre herum zu, es wird ein- und ausgeladen, Passagiere kommen und gehen, und fliegende Händler versuchen, ihre Produkte an den Mann zu bringen.

Hochhäuser am Steilhang Hochhäuser am Steilhang (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Alle Städte am Fluss liegen hoch über dem Flussbett und sind nur über unzählige Treppen zu erreichen, Straßen zum Verladen von Waren, die per Lkw angeliefert werden, führen spitzwinklig zum Ufer herunter. Erst als wir erfahren, dass der Yangtsekiang selbst an diesen breiten Stellen kräftig ansteigen kann, ist der Sinn solcher Einrichtungen verständlich.

Verladerampen Verladerampen (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Es ist pechschwarze Nacht, als wir in Wanxian anlegen. Wir gehen ins Bett, denn morgen heißt es, früh wieder auf den Beinen sein. Um 01:00 Uhr in der Nacht wird es laut um das Schiff, die Fahrt geht weiter. Nach unserer Schätzung müssen wir bei Sonnenaufgang die erste der drei Schluchten, wo sich der Fluss seinen Weg durch das Wu-Gebirge bahnt, erreichen. Um 05:45 Uhr sind wir auf den Beinen, gerade rechtzeitig, um mitzuerleben, wie die bis zu 600 m aufsteigenden steilen Berge den Fluss auf eine Breite von teilweise nur noch 100 zusammenpressen. Um bis zu 60 m steigt hier der Wasserspiegel bei Hochwasser an. Im Osten verfärbt sich langsam der Himmel und überzieht den Fluss mit einem goldenen Schleier, der mit steigender Sonne in gleißendes Silber übergeht. Die erste Schlucht (Qutang Xia) ist nur 8 km lang. Ihre Faszination liegt heute morgen besonders im Wechselspiel von Licht und Farben, mit dem reißenden Strom und den ihn einengenden Felsen.

Durch die 'Drei Schluchten' Durch die ‘Drei Schluchten’ (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Schon 1,5 Stunden später passieren wir die Wu Xia-Schlucht. Sie ist zwar wesentlich länger (40 km) als die erste, aber längst nicht so voller Dramatik. Wir haben uns ins Restaurant zum Frühstück zurückgezogen und erleben die Durchfahrt von hier aus.

Kohleverladung Kohleverladung (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Irgendwo im Umland muss Kohle abgebaut werden, schließen wir aus den riesigen Kohlehalden am südlichen Ufer. Oberhalb der sicher 100 m aufragenden Uferberge wird die Kohle über den Böschungsrand geschüttet und bildet dort riesige Halden. Hunderte von Arbeitern schaufeln die Kohle dann in Bastkörbe, um sie zu einem am Ufer liegenden Lastkahn zu tragen. So werden tausende von Tonnen bewegt.

Um 09:00 Uhr legen wir in Badong an; wieder eine dieser typischen Uferstädte. Kurz hinter Zigui beginnt die 78 km lange Xiling-Schlucht, mehr eine Aneinanderreihung von mehreren kleinen Schluchten. Fast senkrecht steigen die Felsen links und rechts empor, das Schiff wechselt ständig von einer Uferseite zur anderen, um den Untiefen auszuweichen. Wir glauben manches Mal, dass es den Fels streifen wird. Mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit brodeln die gelben Wassermassen des Flusses an uns vorüber.

Senkrecht steigen die Felsen auf in der Xiling-Schlucht Senkrecht steigen die Felsen auf in der Xiling-Schlucht (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Dann öffnet sich das Tal plötzlich, die Berge werden flacher und weichen zurück. Auf den Terrassen wird intensiv Landwirtschaft betrieben. Die dunkle Farbe der Bäume lässt auf Zitrusplantagen schließen. Ebenso plötzlich rücken die Berge wieder zusammen, um die nächste Schlucht zu formen.

Kurz vor Yichang passiert die Fähre ein letztes Felsentor. Vor uns liegt ebenes Schwemmland. Der Fluss wird träge, und die Ufer rücken auf 2.000 m auseinander, um sich bald zu einem riesigen See zu erweitern. Der Fahrtwind lässt nach, und drückende Schwüle klebt die Bekleidung an den Körper, als wir auf die Genehmigung zum Einlaufen in eine Schleuse warten. Mit einem 47 m hohen Damm ist der Fluss aufgestaut, um seine Wassermassen zur Stromgewinnung zu nutzen. Zwei Stunden dauert die Prozedur, bis wir auf das ca. 40 m tiefere Niveau des Yangtsekiang hinter der Staumauer abgesenkt sind.

Breit und träge wird der Yangtse recht schnell wieder, denn das Land ringsum ist bretteben. An beiden Ufern erheben sich bis zu 16 m hohe Deiche, die den Fluss bändigen sollen, wenn seine Wassermassen durch Regenfälle anschwellen. Früher dienten die gelben Fluten bei Überschwemmungen der Regeneration des fruchtbaren Lößbodens. Heute, wo der Mensch versucht, ihn zu bändigen, sind Überschwemmungen Katastrophen für das Land am Yangtse. So weit das Auge reicht, erstrecken sich die riesigen Flächen intensiv landwirtschaftlich genutzten Schwemmlandes, unterbrochen nur hin und wieder von der Silhouette einer größeren Ortschaft. Schon von sehr weit sind diese Orte auszumachen, an den Fabrikschloten, die ihren schwarzen Qualm in den seit Mittag wieder trüben Himmel blasen.

Die Fahrt im jetzt ruhigen Wasser des Stroms dauert noch weitere 15 Stunden. Erst frühmorgens um 07:00 Uhr legen wir in Yueyang an. Nur langsam kommen wir durch die Menschenmassen - Passagiere und deren Abholer - auf der Gangway und am Ufer voran. Jeder versucht, so schnell wie möglich an Land zu kommen. Um unser Gepäck brauchen wir uns nicht zu kümmern, das wird direkt ins Hotel befördert. Was dort allerdings ankommt, hat nur noch annähernd sein ursprüngliches Aussehen. Die Koffer müssen die 2 Tage in einem schlammüberfluteten Laderaum gelegen haben, oder sollte der Lkw unterwegs seine Ladung verloren haben? Beschädigt oder sogar aufgebrochen ist erfreulicherweise aber nichts. Laut Programm hätten wir noch an Bord unser Frühstück bekommen sollen, daraus ist nichts geworden, und so holen wir es in einem Hotel nach, leider nicht in der guten Qualität, die wir inzwischen kennengelernt haben.

Von Yueyang über Guilin und Kanton nach Hongkong

Yueyang-Turm Yueyang-Turm (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Yueyang und der Donting-See

Es regnet ‘mal wieder, als wir zum Yueyang-Turm aufbrechen. Dieser 20 m hohe dreigeschossige Holz-Pavillon zählt zu den Kostbarkeiten südlich des Yangtsekiang. Sein unverwechselbares Aussehen erhält der rechteckige Turm durch die besonders stark nach oben gezogenen Ecken des geschwungenen Daches. Von der obersten Etage des Turms hat man einen wunderbaren Blick auf den nahen Dongting-See, an dessen Westufer Yueyang liegt.

Nach einer Teepause im Restaurant am Yueyang-Turm besuchen wir eine Jugend-Kong-Fu-Schule in der Stadt. Eine kleine Gruppe Jungen und Mädchen, die gerade zum Training anwesend sind, präsentieren einige Schaukämpfe der mit Schlaghölzern, Säbeln, oder auch waffenlos ausgeübten Kampftechnik. Man hat das Gefühl, dass sie sich besonders anstrengen, den Europäern ihr Können zu demonstrieren. Jeder Fehlversuch wird sofort wiederholt, zum Zeichen, dass man ihn doch beherrscht.

Im ‘Hotel Yueyang’ kehren wir zu einem sehr guten und schmackhaften Mittagessen ein, ehe es vom Anleger unterhalb des Yueyang-Turms mit dem Boot hinausgeht auf den Donting-See. Auch er ist mit dem Yangtse verbunden und dient in der niederschlagreichen Zeit als Überlaufbecken. Wir passieren flache Stellen, an denen die Köpfe der Binsen über die Wasseroberfläche lugen. In kleinen Buchten liegen Fischerboote, und auf dem See stecken Arbeiter neue Stangen zur Markierung der Fahrrinne in den Grund. Wir fahren direkt zu der kleinen Insel Jun Shan, die für eine ganz besondere Teesorte berühmt ist. Bei einem Inselspaziergang sehen wir die terrassenförmig auf den Hügeln angelegten Teeplantagen, auf denen der angeblich beste chinesische Tee, der sog. Silbernadel-Tee, angebaut wird, von dem jährlich nur wenige Kilogramm an bestimmten Tagen im Mai geerntet wird. Gießt man diesen Tee auf, so stellen sich seine Blätter auf dem Grund des Glases senkrecht, eine Erscheinung, die angeblich nicht erklärbar ist. Wir lassen es uns demonstrieren und können natürlich auch nicht widerstehen, eine kleine Probe zu kaufen.

Im ‘Hotel Jumen’ können wir uns noch etwas ‘richten’ und zu Abend essen, dann sind wir abermals auf einem chinesischen Bahnhof. Um 20:43 Uhr pünktlich verlässt der Zug Yueyang in Richtung Süden.

Ausgeruht stehen wir schon um 06:15 Uhr am Zugfenster. Auf beiden Seiten des Bahndamms glänzen endlose Reisfelder wie Silber im Morgenlicht. Gebückte Gestalten stehen im knietiefen Wasser, um mit flinken Händen Reissetzlinge in den schlammigen Grund zu drücken. Hin und wieder ein Wasserbüffel-Gespann, das einen Holzpflug durch den wasserbedeckten Boden zieht, um ihn für die Anpflanzung vorzubereiten.

Reisbauern Reisbauern (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Guilin und der Li-Fluss

Es geht auf 09:00 Uhr, als am Horizont vereinzelte erste Karsthügel auftauchen. Wir müssen unserem Ziel sehr nahe sein. Eine halbe Stunde später, wir haben 687 km zurückgelegt, läuft der Zug in Guilin ein. Wir stehen eine weitere halbe Stunde auf dem Bahnhof herum, unsere Reiseleiterin sitzt im Zug und kümmert sich um nichts, und ein städtischer Führer taucht erst um 10:00 Uhr auf. Wir fahren zur Besichtigung einer Tropfsteinhöhle, die den richtigen Hintergrund für Erläuterungen zur Eigenart der Karstgebirgsformationen dieser Region abgibt. Von hier aus geht’s ins Hotel ‘Li River’, einem angenehmen Haus mit wunderbarem Blick auf den Li-Fluss und die einmalige Landschaft rund um Guilin.

Landschaft am Li-Fluss Landschaft am Li-Fluss (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Man muss hier gestanden und hinausgeschaut haben, auf die eigentümlichen Gebilde der Karstkegel mit ihrer dunkelgrünen Bewaldung und den dazwischen gestreuten hellgrünen Reisfeldern und das blinkende Wasser des Flusses, um zu verstehen, welche Faszination von dieser Landschaft auf die chinesischen Maler ausgegangen ist. Die teilweise expressionistisch wirkenden Tuschebilder geben wirklich das wider, was sich dem Betrachter bietet.

Kormoran-Fischer Kormoran-Fischer (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Wir verbringen den Nachmittag mit einem ausgiebigen Bummel hinunter zum Fluss, beobachten die Fischer mit ihren zum Fischfang ‘präparierten’ Kormoranen - man legt ihnen einen Ring um den Hals, der verhindert, dass sie einen gefangenen Fisch hinunterschlucken können - und wandern hinaus vor die Tore der Stadt, durch gepflegte Gemüsegärten, in denen jetzt zum Feierabend immer mehr Leute erscheinen, um zu graben, zu hacken und zu ernten.

Nach dem Abendessen überreden uns andere Reiseteilnehmer, in der Bar zu bleiben, um diese Reise gemeinsam ausklingen zu lassen. Es ist kurz nach Mitternacht, als wir uns endlich ins Bett trollen. Bevor es am nächsten Morgen losgeht, zum letzten Ausflug dieser Reise, müssen natürlich wieder die Koffer vor der Zimmertür stehen. Um 09:00 Uhr legt der Flussdampfer ab, zu einer 42 km langen Fahrt auf dem Li-Fluss.

Wie in Tusche gemalt Wie in Tusche gemalt (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Behäbig scheint der breite Fluss sich seinen Weg zwischen den scheinbar willkürlich in die Landschaft gestellten steil aufragenden Kegeln zu bahnen. Nur an den zum Teil mit großer Geschwindigkeit über den Fluss schießenden Bambusflößen erkennt man die gewaltige Strömung, mit der sich das Wasser seinen Weg bahnt. Auf den Flößen, aus drei mit Tauen zusammengebundenen dicken Bambusstangen, gerade breit genug für eine Person, sitzen oder stehen Männer und Frauen, um zum Fischfang zu fahren, ihre Gemüseernte zu transportieren, oder einfach, um das Flussufer zu wechseln.

Auf schlankem Bambus-Floß Auf schlankem Bambus-Floß (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Hinter jeder Flussbiegung ändert sich das Panorama. Die Berge kämmen die Feuchtigkeit aus der Luft und versorgen so die Flora mit dem wachstumsfördernden Nass. Es gibt kaum eine kahle Stelle im Fels oder auf dem Boden.

Reisplantagen am Li-Fluss Reisplantagen am Li-Fluss (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Besonders eindrucksvoll bietet sich diese Landschaft von einem Pass dar, den wir nach Verlassen des Schiffes mit dem Bus passieren. In den zwischen den Kegeln eingelagerten Reisfeldern wird eifrig gearbeitet. Mit einer an einer langen Stange befestigten ‘Schöpfkelle’ heben Frauen das Wasser aus einem Bewässerungskanal in einen anderen auf höherem Niveau. Die Bauern pflügen mit Büffelgespannen die überfluteten Reisfelder, und in kleinen Gruppen bewegen sich die mit flachen kegelförmigen Strohhüten gegen die Sonne geschützten Frauen beim Auspflanzen der Reissetzlinge durch die silbrig glänzenden Reisfelder.

Wasser schöpfen zur Bewässerung Wasser schöpfen zur Bewässerung (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Reisbauer mit Büffel-Gespann am Li-Fluss Reisbauer mit Büffel-Gespann am Li-Fluss (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Das Besondere dieses Tages wird durch den Umstand verstärkt, dass wir einen herrlichen Sonnentag erlebt haben, ganz im Gegensatz zu dem hier angeblich sonst vorherrschenden Nebel- und Regenwetter. Bei unserer Ankunft am Flughafen erfahren wir, dass zur Zeit keine Möglichkeit für einen Weiterflug besteht. Begründung: keine. Könnte ja auch jeder fragen und womöglich noch eigene Rückschlüsse daraus ziehen. Im ‘Hotel Ramadan’ werden wir abgesetzt, und für die nächsten 3 Stunden kann jeder sein Programm auf eigene Faust gestalten. Wir ziehen los, um noch einige Eindrücke am Flussufer zu sammeln. Auf Treppen, die in die Uferbefestigung eingelassen sind, hocken Frauen, um so gut wie alle Dinge des täglichen Lebens zu reinigen: Wäsche, Geschirr, Gemüse und Fleisch. Im Gegensatz zu den großen Flüssen Nordchinas ist der Li-Fluss kristallklar.

Eine kleine Versöhnung, unser Stadtführer hat schon hier ein Festessen arrangiert, da sicher ist, dass wir in Kanton dafür keine Gelegenheit mehr haben werden. In einem großen Restaurant mit Blick über den Fluss gibt es ein vorzügliches Essen und reichlich zu trinken.

Über Guangzhou nach Hongkong

Da der neuerlich bekanntgegebene Abflugtermin erst 21:40 Uhr ist, sind wir dann auch rechtzeitig am Flughafen. Der Flug verzögert sich abermals. Obwohl nur 1 Stunde von Guilin entfernt, landen wir endlich kurz vor Mitternacht in Guangzhou (Kanton). Es ist schwül-heiß, eine Empfangsperson weit und breit nicht in Sicht, wir sind übermüdet, und die Kleider kleben am Körper. Im ‘Hotel Weißer Schwan’, einer der Luxusherbergen von Kanton angekommen, finden wir immer noch keine Ruhe - die Koffer sind nicht da. Die Zeit bis zu ihrem Eintreffen verbringen wir auf dem Balkon des Zimmers, hoch über der hell erleuchteten Stadt. Auf dem Perlluss herrscht reger Verkehr, in den Straßen flimmern die Leuchtreklamen; es ist auch zu dieser späten Stunde überall Betrieb. Schade, dass sich dieser Aufenthalt quasi nur auf die Übernachtung beschränken wird.

Der letzte Tag in China und damit dieser Reise bricht an. Er ist wie viele andere auch: wecken, Koffer ‘rausstellen, Frühstück, Abfahrt. Um 09:30 Uhr verlässt der hochmoderne Schnelltriebwagen den Bahnhof. Es ist angenehm kühl im Abteil: 27°C. Durch Reisfelder, Bananen- und Orangenplantagen im Mündungsgebiet des Perlflusses geht die 3-stündige Fahrt ins 180 km entfernte Hongkong. Die Grenzkontrolle im Zug ist reiner Formalismus. Im Hotel wird uns ein Tageszimmer zugewiesen, um ein letztes Mal alles für den Heimflug richten zu können. Wir freuen uns auf das erste westliche Essen, - Wiener Schnitzel mit deutschem Bier im Café Vienna.

Von 14:15 bis 18:00 Uhr ist noch eine Stadtrundfahrt angesetzt, die uns auf den Victoria Peak und in den Hafen bringt. Es ist ein einmaliger Blick vom Gipfel des Victoria Peaks auf die wenigen Quadratkilometer des Stadtstaats Hongkong. Zu unseren Füßen breitet sich rund um die vielen Buchten und auf den vorgelagerten Inseln eine nicht zu übersehende Ansammlung von Hochhäusern aus, erdrückend und imponierend zugleich. Und immer noch ist Platz, um weitere Beton- und Glaspaläste zu errichten, markantestes Exemplar ist das höchste Haus Hongkongs, die Verwaltung der ‘Bank of China’. Auch die Idylle des Hongkonger Hafens hat unter dem Bauboom gelitten. Eingerahmt von Hochhäusern und Schnellstraßen ist der alte Hafen auf ein recht kleines Areal zusammengeschrumpft. Das Getümmel der Dschunken, von denen jede zweite zum Restaurantboot umgebaut ist, vermittelt dennoch den Eindruck des absoluten Chaos. Es ist auf jeden Fall ein Dorado für Photographen.

Auf Einkaufs-Tour in Hongkong Auf Einkaufs-Tour in Hongkong (Dia-Duplikat) © 1988-2016 Bernd Runde

Danach ziehen wir los, um den geplanten ‘spottbilligen’ Einkauf einer neuen Kamera zu erledigen. Die Innenstadt ist ein einziger Supermarkt. Transparente überspannen die Straßen, in allen Schaufenstern verkünden Plakate in allen Sprachen der Welt, was es zu welch’ günstigen Preisen und mit welchen außergewöhnlichen Rabatten zu kaufen gibt. Nur die Kamera, die wir uns zulegen wollen und die im Schaufenster so günstig ausgepreist ist, wie wir es erhofften, die bekommen wir nicht. Mit seinem ganzen verkäuferischen Geschick versucht der Photohändler, mir ein anderes Modell schmackhaft zu machen, auch noch, als er die Rechnung schon geschrieben und den Amexco-Abbuchungsbeleg ausgefüllt hat. Sein letztes Argument: ‘Das ist nur ein unverkäufliches Ausstellungsstück’ - mit anderen Worten: Ein Lockvogel!

Fast zwei Stunden hängen wir auf dem Flughafen herum, ehe der Jumbo sich um 22:40 Uhr in die Lüfte erhebt. Wir überstehen bange Minuten, denn das ‘in die Lüfte heben’ scheint nicht recht klappen zu wollen. Es dauert eine Unendlichkeit, bis die Maschine endlich abhebt. Von der, mitten in der Stadt ins Wasser gebauten Piste, können nur noch wenige Meter unter den Rädern sein, als das Flugzeug die Bodenberührung verliert, aber von Steigflug ist nichts zu spüren.

Wir sind weder ins Wasser, noch in die Hongkonger Häuserschluchten gestürzt. Nur wenige Minuten später erbebt sich die Maschine und wird wie von einer Riesenfaust gepackt durchgeschüttelt. Das dauert ca. eine halbe Stunde an. [Einige Tage später lesen wir in der heimatlichen Presse, dass Hongkong von einem schweren Taifun heimgesucht wurde und ein Jumbo beim Starten in den Hafen gestürzt ist.] Allmählich kehrt im Flugzeug Ruhe ein, und wir können uns entspannt zurücklehnen, die Augen schließen und die Ereignisse und Erlebnisse der letzten 4 Wochen noch einmal Revue passieren lassen. Es war Stress, wie noch auf keiner Reise vorher, aber die Fülle dessen, was es zu sehen gab, rechtfertigte diesen Stress.

China beheimatet mehr als 1 Mrd. Menschen, davon lebt in den Großstädten, die wir besucht haben, nur ein Bruchteil; in Beijing >12 Mio, in Shanghai >14 Mio und Chongqing noch einmal >14 Mio. Wir haben viel gesehen und sind tausende von Kilometern durchs Land gefahren. Was muss in diesem Riesenreich noch alles existieren, wovon wir keine Ahnung haben. Wir fuhren mit der Eisenbahn aus der Mongolei kommend durch die Landschaft des Ostchinesischen Beckens, durch einige Städte am Gelben Fluss und im Delta des Yangtsekiang. Je weiter wir aufs Land kamen, in die sogenannten ‘kleinen Städte’, um so intensiver wurde der Kontakt mit der Bevölkerung, auch wenn man sich nicht unmittelbar selbst verständigen konnte. Ausnahmen waren nur einige wenige Studenten, die versuchten, ihre Englischkenntnisse anzubringen. Wir haben Höhepunkte chinesischer Landschaft erlebt, Kultstätten und Baudenkmäler aus einer über 3.000-jährigen Geschichte bewundert und nicht zuletzt Einblick gewonnen in Religion und Lebensgewohnheiten einer uns doch sehr fremden Kultur.